CEOs müssen umdenken: Die Digitalisierung dezentralisiert die Macht

Text: Simon Eppenberger | Bilder: Marc Wetli | Magazin: Work in progress – November 2020

Er lernte viel beim Scheitern und ist mit Anfang vierzig bereits weit oben angekommen: Nicolas Bürer, CEO von digitalswitzerland, über die digitale Zukunft der Schweiz und die Chancen der neuen Arbeitswelt.

COVID-19 brachte innert Tagen das Home-Office neu in Tausende Firmen. Erleben wir den grössten Schub für die Digitalisierung in der Schweiz?

Vorübergehend, ja. Jetzt spielt die Digitalisierung in vielen Branchen eine grössere Rolle als zuvor. Bezogen auf die Interaktion von Teams, Firmen und Kunden gibt es nichts Vergleichbares.

Wird diese Ausnahmesituation die Schweiz nachhaltig digitaler machen?

Ich erwarte, dass viele wieder in die gewohnte Arbeitsumgebung zurückkehren. Entscheidend wird sein, wie sich Führungspersonen verhalten. Durch die COVID-19-Pandemie wurden sie gezwungen, neu zu denken und zu führen, auch Kontrolle abzugeben. Home-Office ist nicht die klassische Top-down-Führung. Es ist viel eher ein Netzwerk, bei dem die Teams und Individuen mehr Verantwortung haben. Dies ist die Zukunft.

Nicht erst seit COVID-19 muss sich die Gesellschaft mit dem digitalen Wandel auseinandersetzen. Das weckt Hoffnungen, aber auch Ängste. Was entgegnen Sie, wenn jemand den Verlust des Jobs aufgrund der Digitalisierung befürchtet?

Dazu gibt es klare Fakten. In den nächsten 15 Jahren werden etwa 20 Prozent der heutigen Jobs wegfallen. Das ist eine ernsthafte Situation. Bei fünf Millionen Arbeit­nehmenden ist das eine Million, die ihre heutige Arbeit verliert. Angst hingegen ist ein schlechter Ratgeber. Die Lösung ist Neugier und lebenslanges Lernen.

Wie stemmt die Schweizer Wirtschaft den Wegfall von 20 Prozent der heutigen Jobs?

Durch die Investition in Bildung, Weiterbildung und Innovation. Es ist mit einer ähn­lichen Entwicklung zu rechnen wie bei der dritten industriellen Revolution. Damals haben wir auch 20 Prozent der Jobs verloren. Heute haben wir mehr Jobs in neuen Bereichen.

Solche Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt sind nicht problemlos zu bewältigen.

Es besteht das Risiko einer sozialen Schere, die weiter aufgeht. Die dritte Revolution hat 20 Jahre gedauert, heute geht alles zweimal schneller. Die Arbeitslosenquote darf nicht zu stark steigen, vor allem auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen. Es ist nicht gut für die Gesellschaft, wenn zu viele Leute davon betroffen sind, während Top-Qualifizierte unzählige Job-Angebote erhalten.

Aufgewachsen ist Nicolas Bürer (42) bei Genf, in Lausanne hat er an der EPFL Physik studiert. Danach trat er in Zürich eine Beraterstelle an, war später bei Dein Deal und dem Jugendsender Joiz in führenden Positionen. Er ist Mitgründer von Movu, einem digitalen Dienst rund ums Zügeln, den die Bâloise aufgekauft hat. Daneben ist er in drei weiteren Start-ups involviert. Seit 2016 ist er Geschäftsführer von digitalswitzerland. Bürer lebt in Zürich, ist verheiratet und hat zwei Kinder. 

Also muss lebenslanges Lernen zur ersten Priorität unsere Gesellschaft und Wirtschaft werden?

Es muss zumindest weit oben auf der Prioritätenliste sein. In einer grossen Umfrage der Tamedia gab die Hälfte der Bevölkerung an, den Eindruck zu haben, sie müsse sich aktuell nicht weiterbilden. Das
ist dramatisch. In dieser Gruppe sind die Menschen, die ihre Jobs verlieren werden.

Wie sollen Arbeitgebende mit digitalen Kompetenzen und der Weiter­bildung umgehen?

Das muss auf Stufe Verwaltungsrat und Geschäftsleitung Priorität werden. Viele grosse Technologieunternehmen haben das längst erkannt. Dort gehört Weiterbildung neben dem Kerngeschäft und den Finanzen zur obersten Etage.

Die digitale Arbeitswelt verändert sich rasant. Welche Risiken sehen Sie sonst noch?

Das Risiko Nummer eins gilt auch für das Privatleben: Der Verlust von Privatsphäre, Werten und sozialen Kontakten. Firmen können beispielsweise die Digitalisierung missbrauchen und Mitarbeitende tracken. Und es ist keine lustige Vorstellung, in zehn Jahren mit smarten Brillen auf dem Kopf alleine zu Hause zu arbeiten.

«Das klassische Management wird umgewälzt. Gefragt ist «Empowerment Leadership», bei dem Verantwortung geteilt wird.»

Welche Chancen bringt die digitale Arbeitswelt?

Vieles wird praktischer, komfortabler, die Service-Dienstleistungen werden stark zunehmen. Die Mobilität wird sich beispielsweise transformieren, die Landwirtschaft wird automatisiert, Smarthomes nehmen uns Haushaltsarbeit ab – Maschinen werden viele Aufgaben erledigen. Die Menschen müssen viel kreativer zusammenarbeiten, sich auf die Analyse und Weiterentwicklung und weniger auf die Ausführung fokussieren.

Die Kampagne #LifelongLearning von digitalswitzerland und dem Schweizerischen Arbeitgeberverband engagiert sich für einen kontinuierlichen Lernprozess. Was ist das konkrete Ziel?

In der ersten Phase haben wir dafür sensibilisiert, dass Lernen eine Chance fürs Leben ist und es jede und jeder selber anpacken muss. In diesem Jahr gehen wir noch stärker in die Aktivierung. Neu können wir Firmen direkt mit finanziellen Mitteln bei der Weiterbildung der Mitarbeitenden unterstützen.

Wie können Unternehmen das «Digital Upskilling» ihrer Mitarbeitenden fördern?

Übertrieben gesagt: verordnen. Und konkret: genug Tage für die Weiterbildung definieren. Technologiekonzerne inves­tieren bis zu 20 Prozent der Zeit ihrer Leute dafür – auch ausserhalb des Kernge­schäftes. Ausbildung ist ein Key Performance Indicator.

Welches sind die grössten Heraus­forderungen beim «Digital Upskilling» von Mitarbeitenden?

Es ist eine dünne Linie zwischen Zwang und Selbstmotivation. Mitarbeitende – aber auch Führungskräfte – müssen wollen. Digitalisierung dezentralisiert die Macht und die CEOs müssen umdenken.

digitalswitzerland ist die gemeinsame Initiative von Wirtschaft, öffent­licher Hand und Wissenschaft, die die Schweiz zum international führenden digitalen Innovationsstandort machen will. Im Fokus stehen Wissenstransfer, Bildung, Start-up-Ökosysteme und politische Rahmenbedingungen. Dem 2015 gegründeten Verein gehören mehr als 175 der renommiertesten Unternehmen und Organisationen sowie innovative Standorte der ganzen Schweiz an. 2019 lancierten der Schweizerische Arbeit­geberverband und digitalswitzerland unter anderem gemeinsam die nationale Kampagne #LifelongLearning.

www.digitalswitzerland.com

Wie ist die Schweiz punkto Ausbildung unterwegs: Ist der Nachwuchs für die Zukunft gerüstet?

Wir beschweren uns gerne in der Schweiz, sind aber seit sieben Jahren die Nummer eins im Global Talent Competitiveness Index. Aber bei den Kindern sind wir nicht zuvorderst. Dennoch, der Lehrplan 2021 bringt Informatik in die 5. Klasse, das ist sehr sinnvoll. Der nächste Schritt in der Ausbil­dung ist das «Computational Thinking», die Interaktion von Menschen und Maschi­nen. Dann lernen Kinder, wie man Roboter programmiert. Denn Digitalisierung ist nicht nur Software.

Kinder sollen Roboter programmieren?

Meine Kinder zum Beispiel haben keine Bedenken oder Hemmungen gegenüber der Automatisierung. Wieso Staub­saugen, wenn das eine Maschine tut? Ich bin beim autonomen Autofahren noch nicht ganz entspannt, meine Kinder finden das «cool». Gleichzeitig wird die nächste Generation wohl sehr sozial.

Es gibt teils ungenügende digitale Fähigkeiten bei einer grossen Nachfrage. Wo steht die Schweiz beim «Digital Talent Gap»?

Gemäss einer aktuellen Studie von ICT­-switzerland werden uns in der nächsten Dekade Zehntausende Fachkräfte im digitalen Bereich fehlen. Bei Grossunternehmen, KMU und Start-ups ist der «Talent Gap» schon heute zum Teil stark zu spüren.

Wie ist diese Talent-Lücke zu füllen?

Erstens durch digitales Upskilling, zweitens durch die Einwanderung von digitalen Experten. Diese Aussage stützt sich rein auf die Statistik und ist in vielen Ländern ein grosses Problem. Pro Jahr fehlen der Schweiz mehrere Tausend Spezialistinnen und Spezialisten. Entgegenwirken könnte man dem mit einem Tech-Visum. Die Nieder­lande sind da weiter. Deshalb gibt es Schweizer Tech-Unternehmen, die in Amsterdam Tochterfirmen betreiben. Im Silicon Valley stammen die Hälfte der Gründerinnen und Gründer nicht aus den USA.

Weiterbildung ist teuer. Wieso sollte man als Unternehmen darin investieren?

Eine Weiterbildung ist eine Incentivierung, und für solche Chancen sind Mitarbeitende dankbar. Wenn sie das Gelernte einsetzen können, werden sie bleiben und zusätzlich zur Produktivität des Unternehmens
beitragen.

«Angst vor Jobverlust ist ein schlechter Ratgeber. Die Lösung ist Neugier und lebenslanges Lernen.»

Was ist Ihre Vision der Arbeitswelt der Zukunft?

Ich erhoffe mir, dass Maschinen unser Leben sehr erleichtern und wir Menschen uns auf die Analyse, Interpretation, Kreativität und Weiterentwicklung konzentrieren können. Und ganz wichtig: auf die sozialen Kontakte. Mehr Leute werden mehrere unterschiedliche Jobs haben, flexibler sein und es wird mehr digitale Nomaden geben. Daher müssen wir Kontakte unbedingt pflegen.

Verändert die Digitalisierung auch die Führung innerhalb von Unternehmen?

Das klassische Management wird umgewälzt. Stichwort «People Empowerment»: Fokus auf die Menschen und Teams, die mehr Verantwortung erhalten. Gleichzeitig wird viel mehr gemessen, analysiert und nach validierten Daten geführt. Dafür braucht es das Verständnis für komplexe Strukturen. Gefragt ist nicht mehr das Top-down-Management, sondern «Empowerment Leadership», in dem Verant­wortung geteilt wird.

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Nicolas Bürer - Ganz persönlich

Wo standen Sie vor 20 Jahren im Leben?
Damals hatte ich eben den Master in Physik an der EPFL Lausanne abgeschlossen.

Hätten Sie vor 20 Jahren gedacht, dass Sie heute CEO sind?
Niemals!

Wann sind Sie persönlich zum ersten Mal bewusst mit der Digitalisierung in Kontakt gekommen?
Die tatsächliche Bedeutung der Digitalisierung ist mir vor acht Jahren klar geworden, als ich beim digitalen Start-up Dein Deal arbeitete.

Erinnern Sie sich an Ihr erstes Handy? Was hat Sie daran am meisten beeindruckt?
Ein uraltes Nokia. Beeindruckt hat mich dasselbe wie beim Natel C im Auto meines Vaters vor 30 Jahren: dass man ohne Kabel kommunizieren kann und sich dabei noch bewegt.

Wie steht es um Ihr persönliches «Digital Upskilling»?
Ich lese jeden Tag viel. Und ich habe ein digitales Start-up gegründet und in drei investiert. Da bin ich sehr engagiert und vieles läuft über «Learning by Doing».

Weshalb erfüllt Sie Ihre Arbeit?
Der Zweck und die Vision, die Schweiz gemeinsam mit den tollen Leuten um mich herum zum digitalen Innovationshub zu machen, und die Flexibilität, welche die Arbeit ermöglicht, sind sehr erfüllend.

Wie halten Sie Ihre «Work-Life-Balance»?
Es geht mir nicht um Balance. Das 9-to-5-Modell gibt es für viele gar nicht mehr. Jeff Bezos hat gesagt, die Zukunft sei «Work-Life-Harmony». Das gefällt mir. Ich mache auch mal etwas Privates während dem Tag oder arbeite am Abend.

Ihr persönlicher Karrieretipp?
Scheitere! Es ist eine Chance für deine Zukunft.