«Es ist wie in der Liebe»

Text: Regula Freuler | Bilder: Getty Images / Prof. Martin K.W. Schweer | Magazin: Vertrauen in der Gesellschaft – September 2019

Vertrauen, sagt der Psychologieprofessor Martin K. W. Schweer, beruht in unserer Gesellschaft wesentlich auf Gegenseitigkeit: Wer keines spürt, vertraut auch anderen nicht. Ein Gespräch über die Bedeutung der Kindheit und Vertrauen als Ressource für Unternehmen.

Kinder haben ein «Urvertrauen», heisst es. Ist Vertrauen etwas Angeborenes?

Ein Neugeborenes hat gar keine Alternative, als sich anzuvertrauen, denn es ist ja wehrlos und alleine nicht überlebensfähig. Da kann man aber nicht von erfahrungsbasiertem Vertrauen sprechen, denn Vertrauen ist etwas, das sich über die Zeit entwickelt. Es ist das Ergebnis verschiedener Faktoren: dem individuellen Charakter, bisherigen Kontakten und den Bedingungen in der konkreten Situation. Es werden immer wieder Versuche angestellt, einzelne Anlage-Umwelt-Faktoren herauszufiltern, entscheidend ist jedoch stets das komplexe Wechselspiel aller beteiligten Determinanten.

Sie meinen die These des Verhaltensgenetikers Robert Plomin, der glaubt, mit Gentests die kognitiven Fähigkeiten eines Neugeborenen bestimmen und dadurch beispielsweise das spätere schulische Potenzial abschätzen zu können?

Solche Annahmen sind meines Erachtens problematisch. Entscheidend ist doch, dass versucht wird, Menschen vor dem Hintergrund ihres individuellen Potenzials die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen. In dieser Hinsicht haben wir noch erheblichen Nachholbedarf. Mit Blick auf Vertrauen ist bei Kindern die erlebte Sicherheit der Bindung im engsten persönlichen Umfeld ganz entscheidend, das können die Eltern sein, es sind aber auch andere Bezugs­personen denkbar.

Wie hängt die Bereitschaft, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen, mit dem Selbstvertrauen und dem Selbstwertgefühl zusammen?

Diese drei Eigenschaften entstehen in einem kontinuierlichen wechselseitigen Prozess. Wenn man vertrauens­volle Beziehungen eingeht, steigt die Wahrscheinlichkeit, positive Erfahrungen zu machen, und das wiederum stärkt das Selbstvertrauen und das Selbstbewusstsein. Menschen mit hohem Selbstvertrauen gehen auch eher einmal ein Risiko ein – und Vertrauen ist immer ein Risiko.

«Vertrauen braucht Mut.»

Man kann jederzeit enttäuscht werden. Das heisst aber nicht, dass eine Person zwingend ihr Leben lang gleichermassen vertrauensvoll oder misstrauisch bleiben wird. Entscheidend ist letztlich, welche Erfahrungen diese Person sukzessive in den verschiedenen Lebensbereichen macht.

Können Sie ein Beispiel geben?

Nehmen wir ein Kind, das zu Hause eine liebevolle und stabile Bindung zu den Eltern erfährt und ein gutes Selbstbewusstsein entwickelt. Dann kommt es in die Primarschule und wird von seiner Lehrerin grenzenlos enttäuscht. Vertrauen braucht lange, um sich zu entfalten – es ist jedoch sehr schnell verspielt. Umgekehrt kann jemand mit einem geringen Selbstvertrauen aus der familiären Sozialisation selbstvertrauens- und selbstwertfördernde Erfahrungen im schulischen oder im Freizeitbereich machen. Zweifelsohne ist natürlich die häusliche Basis eine ganz wichtige Grundlage für den Start ins Leben.

Die heutigen Teenager gelten als «Generation Vorsicht»: Sie trinken weniger als die Generation ihrer Eltern, sie konsumieren weniger Drogen, sie prügeln sich weniger – sie sind grundsätzlich weniger risikofreudig und scheinen sich weniger zuzutrauen. Das Ergebnis von Helikoptereltern?

Menschen sind in der heutigen Zeit viel stärker für gesundheitsgefährdendes Verhalten sensibilisiert, dies ist auch das Ergebnis von Bildungseinflüssen und gezielten Aufklärungsmassnahmen. Es ist beispielsweise heutzutage nicht mehr «cool», zu rauchen. Das übervorsichtige Verhalten von Eltern hingegen ist meines Erachtens ein gelerntes kollektives Verhalten, gespeist aus zum Teil irrationalen Ängsten, an deren Genese die mediale Inszenierung von negativen Einzelfällen sicherlich nicht unschuldig ist.

Martin K. W. Schweer

Der Diplompsychologe (1965) ist Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Vechta und leitet das dortige Zentrum für Vertrauens­forschung, das er 1996 mitgegründet hat. Zudem betreut er Sportler und berät Unter­nehmen. Neben einer Vielzahl an fachwissen­schaftlichen Publi­kationen erschienen für das breite Publikum unter anderem die Bücher «Facetten des Vertrauens» (Verlag Noack & Block) sowie «Vertraut euch!» und «Wer aufgibt, wird nie Sieger! 40 Lektionen zur Steigerung der mentalen Fitness» (Verlag Frank & Timme).

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Funktioniert Vertrauen auch einseitig?

Nur wenn man nicht merkt, dass es einseitig ist. Vertrauen beruht nämlich ganz entscheidend auf wahrgenommener Gegenseitigkeit. Menschen, die einer anderen Person vertrauen, gehen davon aus, dass ihnen gleichermassen Vertrauen entgegengebracht wird. Es ist wie in der Liebe: Wenn Menschen lieben und überzeugt sind, dass ihre Liebe erwidert wird, ist dies beziehungsfördernd. In unserer Kultur ist Wechselseitigkeit eine wichtige soziale Norm. Nicht ohne Grund laden wir zum Beispiel vor allem diejenigen zum Geburtstag ein, die uns auch schon einmal eingeladen haben. Glauben wir nun Anzeichen zu entdecken, dass unsere vertrauensvolle Haltung nicht erwidert wird, so wird dies als Vertrauensbruch erlebt. In der Konsequenz wird sich das eigene Vertrauen reduzieren.

Warum ist der Massstab für Vertrauen in Liebesbeziehungen bei den meisten Menschen die sexuelle Treue?

Weil Sexualität bei den meisten Menschen den wesentlichen Unterschied zwischen partnerschaftlichen und nicht partnerschaftlichen Beziehungen darstellt. In anderen Bereichen, etwa in der Arzt-Patient-Beziehung, spielt fachliche Kompetenz eine ausschlaggebende Rolle für das Vertrauen, während dieser Aspekt in manch anderen Beziehungen völlig unbedeutend ist.

Sie sind auch als psychologischer Unternehmensberater tätig. Was raten Sie Unternehmensleitungen, die daran arbeiten, ein vertrauenswürdiges Image auszustrahlen?

Vertrauen soll nicht als erstes Ziel ausgestrahlt werden. Vertrauen soll zunächst einmal gelebt werden. Dann wird es zwangsläufig auch ausstrahlen und ist nicht nur ein strategisches Marketingprodukt. Unternehmen müssen dementsprechend Vertrauen für sich als wichtige Ressource im Innen- und Aussenverhältnis begreifen, Unternehmen müssen sich um eine Vertrauenskultur bemühen. Eine spannende Frage zu Beginn von Entwicklungsmassnahmen ist von daher oftmals der Vergleich zwischen den postulierten Leitsätzen und der Philosophie mit dem «tatsächlichen» Leben im Unternehmen.

«Vertrauen soll nicht als erstes Ziel ausgestrahlt werden. Vertrauen soll zunächst einmal gelebt werden.»

Das hören vermutlich die meisten Unternehmensleitungen nicht besonders gern.

Es ist letztlich eine Frage der grundlegenden Haltung einer Unternehmensleitung. Aber gerade mit Blick auf die komplexen Herausforderungen und die Notwendigkeit zur Innovation steigt die Bereitschaft von Orga­­nisationen zunehmend, das Wagnis des Vertrauens einzugehen.

Welches Wagnis?

Dass man sich zur Partizipation und Transparenz verpflichtet – und letztlich auch dazu, allfällige Konsequenzen zu ziehen. Wenn es etwa in einem Familienunternehmen am Ende doch nur darum geht, dass der Patron alles alleine bestimmt, können grundlegende Wirkfaktoren zum Vertrauensaufbau nicht greifen, vielmehr provoziert man Enttäuschungen und Frustration. Hochbezahlte Führungskräfte, die nicht an einer Vertrauenskultur innerhalb des eigenen Unternehmens interessiert sind, sind meines Erachtens in der heutigen Zeit auf ihren Positionen nicht mehr tragbar.

Sie betreuen auch Sportler. Wo sind da die Knackpunkte?

Viele Menschen gehen davon aus, dass Hochleistungssportler über ein hohes Selbstvertrauen verfügen – das tun sie aber häufig nicht.

Weshalb nicht? Sie erfahren doch viel Bestätigung durch ihren Erfolg.

Es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen bedingter und unbedingter Wertschätzung. Hochleistungssportler sind Menschen, die sich seit früher Jugend über ihre Leistung definieren und darüber von aussen definiert werden. Durch diese Form der bedingten Wertschätzung erfahren sie, wie wichtig es ist, kontinuierlich erfolgreich zu sein. Auf diese Weise kann die Angst vor dem Misserfolg erheblich steigen. Bedingte Wertschätzung ist per se nicht negativ, es muss aber auch die Erfahrung vorhanden sein, dass man unabhängig von Leistung wertgeschätzt wird, zum Beispiel seitens der Familie oder sehr guter Freunde.

Sie sprechen vom Phänomen «Soccer Mom» oder «Tennis-Papi», also elterlichem Drill?

Nicht unbedingt. Häufig handelt es sich nämlich um sehr subtile und unbeabsichtigte Prozesse. Beobachten Sie mal das Verhalten von Eltern, nachdem das eigene Kind einen Turniererfolg hatte oder aber gescheitert ist. Die Reaktionen der Enttäuschung sprechen für sich, obwohl diese Eltern in den allermeisten Fällen ihre Kinder damit nicht bestrafen wollen.

Wie kommt ein Sportler da wieder heraus?

Der erste Schritt ist die Sensibilisierung für solche Prozesse, verbunden mit der Erkenn­t­nis, warum mögliche Misserfolge so angstbesetzt sind. Dies im Idealfall verbunden mit einer konstruktiven Zusammenarbeit mit Eltern und Trainern.

«Vertrauen braucht lange, um sich zu entfalten – es ist jedoch sehr schnell verspielt.»