Das wirtschaftliche Interesse erscheint in einigen Branchen verständlich, etwa in der Industrie oder im Verkehrswesen. Sie antizipieren offenbar Entwicklungen bei den subjektiveren Tätigkeiten, warum nicht mittelfristig auch in der Bildung oder in strategischer Governance. Sollte man misstrauisch sein oder sich damit arrangieren?
Bei «objektiven» Tätigkeiten, so denke ich, sollten wir investieren und den Wandel begleiten, denn das Ergebnis wird beträchtlich sein. Bei allem «Subjektiven», bei allem, wo es – gestützt auf die steigende Zahl von Daten – um Innovation oder die Vorhersage von sozialen Tatbeständen geht, sollte man sich zunächst von der Datenqualität überzeugen: Die Menge allein reicht nicht aus. Die Einordnung von Daten in der sozialen Welt ist keine Selbstverständlichkeit, denn der jeweilige Kontext ist entscheidend für die Auslegung der Daten und für das, was zu ihrem Wert beitragen kann.
Entgegen der landläufigen Meinung ist die Prognose sozialer Tatbestände schwieriger, als eine Rakete zum Mond zu schiessen. Big Data ist ein gutes Tool zur Beschreibung, aber weniger zur Vorhersage, da es die Zukunft anhand des Vergangenen prognostiziert. In der Finanzbranche führt die Verwendung eines prädiktiven Trading-Algorithmus beispielsweise zu einer Veränderung des Handelsverhaltens: Es ist unmöglich, grössere Positionen zu übernehmen, ohne den Markt zu beeinflussen. Die Prognose spielt im Wettbewerb eine entscheidende Rolle, muss aber mit Finesse gesteuert werden. Dieses Tool auf die Gesellschaft zu übertragen, ist eine noch deutlich komplexere Aufgabe und die verlockenden Versprechungen auf diesem Gebiet sind zahlreich.
In Wahrheit ist Big Data ein ziemlich konservatives Tool. Es für Vorhersagen zu nutzen, ist das beste Mittel, um nichts zu verändern, um Fehler zu reproduzieren statt eine Welt zu ersinnen, die erstrebenswert ist!
Wenden wir uns nun der Gegenwart zu. Was ist von der aktuellen Hyperkonnektivität zu halten? Hat diese wirklich alles verändert?
Die wahre Schwierigkeit besteht darin, Veränderung zu denken. Wir betrachten die Welt immer aus unserem eigenen Blickwinkel und finden das normal. Angesichts einer solch weitreichenden strukturellen Veränderung, wie wir sie derzeit erleben, kann man sich eigentlich als Einzelner nicht dagegen stemmen. Die Handlungsfähigkeit und Autonomie des Einzelnen ist zwar erheblich gewachsen, dies aber in einer Umgebung, deren Zusammenhänge sich ihm grösstenteils verbergen.
«Big Data ist ein gutes Tool zur Beschreibung, aber weniger zur Vorhersage, da es die Zukunft anhand des Vergangenen prognostiziert.»
Wie sehen Sie die Zukunft des Homo digitalis? Immer mehr Gadgets? Immer stärker abhängig von der Technologie? Oder erkennen Sie bereits Anzeichen für ein Gegensteuern?
Die «Kultivierung» der Welt ist von Beginn an kontinuierlich fortgeschritten. Daraus ergibt sich eine unvermeidliche Abhängigkeit, soweit die Technik ein Mittel ist. Wird sie zum Zweck, besteht das Risiko, sich selbst zu verlieren, die Energie nicht beherrschen zu können, ebenso wenig wie die Zeit, die wir der Technik widmen.
Wie sieht es mit dem Verhältnis zur Zeit aus: Homo digitalis = Homo acceleris?
Es handelt sich spürbar um dasselbe Phänomen, denn die Digitalisierung ist vorwiegend eine zeitsparende Technik. Auch ein Nussknacker spart Zeit: Mit ihm können wir eine Nuss schneller öffnen. Die dadurch gewonnene Zeit reinvestieren wir unermüdlich in andere Dinge. Damit kommen wir wieder zur Problematik vom Abschalten und Masshalten. Wir müssen lernen, Dinge so zu gebrauchen, wie sie uns angenehm sind, unserem Bedarf entsprechend. Ergibt sich dieser Bedarf aus wirtschaftlichen Beweggründen, mit Blick auf Wachstum, so wird das Wachstum zu einem Zweck, was positiv sein kann, aber nicht einfach so. Wie die Technik ist auch das Wachstum nicht neutral, es kann auf verschiedenste Weise geschaffen, gemessen und geteilt werden. Auch in diesem Zusammenhang müssen wir Wachstum und technische Möglichkeiten so gestalten, wie wir sie uns wünschen, um den Lebensrhythmus pflegen zu können, den wir uns wünschen. Mit anderen Worten müssen wir uns eine Frage stellen: Wird sich aus der gesteigerten Produktivität dank der Digitalisierung mehr erstrebenswerte Zeit ergeben oder werden wir sie doch wieder nur in andere Aufgaben investieren, deren einziger Zweck in der Reproduktion von Arbeit in der Denkart der industriellen Revolution besteht?
Boris Beaude
Kurze Fragen – kurze Antworten
Mit welchen drei Hashtags würden Sie sich selbst definieren?
#HeForShe #Commons #TheDress
Wenn Sie mit nur einer App leben müssten, welche wäre das?
Zweifellos Firefox.
Was schätzen Sie an Ihren virtuellen Freunden am meisten?
Dass sie von vornherein undefiniert sind.
Was verabscheuen Sie am meisten an den digitalen Technologien?
Ihre starke Vermehrung, die nicht dem Rhythmus unseres Körpers, unserer Organisationen, Kultur und Politik angepasst ist, und ihre Konzentration auf wenige Akteure, die über eine völlig unbegrenzte Macht verfügen, der man nicht genug Bedeutung beimisst.
Ihr digitaler Traum?
Nicht aufzuwachen.
An welche digitale Technik haben sie zuerst Ihr Herz verloren?
Zweifellos an den Amiga Ende der 1980er Jahre, der alles zuvor Dagewesene in den Schatten stellte, vor allem den Sinclair ZX81 (Anfang der 1980er). Auch der Macintosh IIci hat mir viel bedeutet.
Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Mobiltelefon?
Vor allem an mein TamTam im Jahr 1995, sehr bewegend, aber wie auch bei meinem späteren Alcatel HD1 im Jahr 1997 (OLA d’Itineris) gab es nicht allzu viele Gesprächspartner…
Üben Sie heute Ihren Traumberuf aus?
Fast, ich würde es nur bevorzugen, wenn meine Tätigkeit noch kreativer wäre. Die Forschung ist eine sehr grosse ‚normative Institution‘, in der Innovation aktuell kein Selbstläufer ist. Die Aktivitäten, Auswertungen und Verantwortlichkeiten sind zu zahlreich, sodass man sich von der ursprünglichen Aufgabe sehr stark entfernt. Dennoch bleibt die Forschung ein Arbeitsumfeld, das mich begeistert und in dem ich viele sehr interessante Menschen treffe. Auch die Lehre ist eine echte Bereicherung, die man nicht in jedem Berufszweig findet.
Ihr Gemütszustand in diesem Augenblick: Gefällt mir oder Gefällt mir nicht?
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