Homo digitalis: eine Frage, die über die allgemeine Debatte hinausgeht

Text: Stéphane Gachet | Bilder: Markus Bertschi | Magazin: Homo digitalis – Juni 2018
 

#He_For_She  #Commons  #The_Dress

Boris Beaude ist Professor für Sozialwissenschaften und Politik an der EPFL in Lausanne. Im Gespräch mit uns teilt er einige Eckpunkte seiner Überlegungen: Das Thema ist komplex und beschränkt sich nicht auf die allgemeine Debatte, «nicht vor dem Hintergrund dessen, was auf dem Spiel steht». Denn die fortschreitende Digitalisierung hat tiefgreifende Auswirkungen auf unsere modernen Demokratien: «Wir sind gefangen zwischen Ängsten und Idealisierung. In jedem Fall sind die Erwartungen fehlgeleitet.»

Von Big Data zu Big Intelligence: Wie weit ist das noch voneinander entfernt? Werden wir letztlich wirklich klüger sein?

Die beiden Begriffe sind bereits eng miteinander verzahnt und lassen sich nicht ohne Weiteres voneinander trennen. Sie nähren einander gegenseitig. Intelligenz beruht auf Informationen und einer speziellen Verar­beitung selbiger, um eine Sinnhaftigkeit zu schaffen, die sich positiv in Handlungen niederschlagen kann. Die Verarbeitungsmöglichkeiten allein bringen nicht besonders viel, werden sie nicht in virtuellen Umgebungen genutzt wie zum Beispiel bei einem Spiel wie Go. Daten allein sind nicht viel nützlicher, vor allem, wenn es so viele sind. Diejenigen, denen es gelingt, beides zu verknüpfen, sind die wahren Gewinner, und offenbar sind das häufig dieselben. Unter diesem Blickwinkel verfolgt IBM einen einzigartigen Ansatz, abgestimmt auf besondere Kontexte wie Gesundheit oder Stadtplanung, aber Google verfügt in diesen Bereichen über einen wichtigen Vorteil. Damit meine ich die Anpassung der Arbeitsweise an das Verhalten des Einzelnen.

Ist es wirklich revolutionär, dabei zuzu­sehen, wie ein Computer beim Go gewinnt oder wie ein Auto autonom fährt?

Die Auswirkungen sind tiefgreifend: Die Grenzen dessen, was nur der Mensch kann, werden dadurch enger gesteckt. Autofahren ist von Natur aus multifunktional. Das Go-Spiel verlangt strategisches Denkvermögen und Intuition. Werden derart komplexe Tätigkeiten von Maschinen übernommen, so definieren wir Intelligenz und das Wesen des Menschseins neu.

«Die wahre Schwierigkeit besteht darin, Veränderung zu denken.»

Ist das ein Wendepunkt für die Menschheit?

Es ist ein entscheidender Moment für die Menschheit. Mit der Delegation mechanischer Fertigkeiten und der Nutzbarmachung von Energie und Metallen haben wir bereits eine grosse Umwälzung erlebt. Heutzu­tage sind wir Zeugen einer Delegation unserer kognitiven Fähigkeiten: der Nutzbarmachung von Energie und Information. Die Zuordnung der mechanischen und kognitiven Delegation ist sehr mächtig und äusserst wirksam. Autonomes Fahren und Industrierobotik sind nur einige Auswüchse davon. Wir müssen uns die Welt der Zukunft anders vorstellen.

Müssen wir die Entwicklungen fürchten oder können wir uns darüber freuen?

In politischer Hinsicht ist dies eine einzigartige Gelegenheit zur Emanzipation, aber als Freiheit wird sie sich nur dann entpuppen, wenn sie aktiv gedacht wird. Denn sie betrifft die Grundfesten unserer modernen Demokratien, die Aufteilung der Wertschöpfung und den Platz des Einzelnen in der Gemeinschaft. Das Thema birgt eine seltene Komplexität.

«Wird sich aus der gesteigerten Produktivität dank der Digitalisierung mehr erstrebenswerte Zeit ergeben, oder werden wir sie doch wieder nur in andere Aufgaben investieren? Damit kommen wir wieder zur Problematik vom Abschalten und Mass halten.»

Spielen Sie damit auf die Konzentration der Produktivität an, wie sie sich bereits heute im GAFA-Phänomen abzeichnet (also Google, Apple, Facebook, Amazon)?

Dieser Ausdruck ist äusserst problematisch, denn die genannten Unternehmen haben nichts miteinander zu tun, lässt man einmal ausser Acht, dass sie nur dank der Digitalisierung des Alltags, dank Mobiltelefonie und Internet an Bedeutung gewonnen haben. Ihre Geschäftsmodelle unterscheiden sich sehr stark voneinander, vor allem im Bereich Big Data. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, der Spur des Geldes zu folgen und sich schlichtweg zu fragen, wer ihre Kunden sind: Im Grossen und Ganzen sind die Kunden von Apple die Benutzer, die Kunden von Amazon die Käufer und Verkäufer und die Kunden von Google und Facebook die Inserenten.

Nichtsdestotrotz bleibt das Konzentrations­risiko völlig unangetastet. Mit der Entwicklung der künstlichen Intelligenz wird diese Konzentration noch weiter fortschreiten. Es ist nicht verwunderlich, dass auch Google verstärkt in den Bereichen Mobilität und Gesundheit unterwegs ist. Apple und die Telefonie sind heute zwei wie selbstverständlich miteinander verknüpfte Begriffe, aber das war vor zehn Jahren noch kein Selbstläufer.

Boris Beaude, Franzose, wohnhaft in Lausanne, ist 44 Jahre alt und im digitalen Zeitalter gross geworden. Seine ersten IT-Berührungspunkte fand er in den 1980er Jahren zu den Zeiten von Amiga und Sinclair ZX81. Sein Interesse für alles Digitale prägte letztlich auch seine akademische Laufbahn, die ihn von Frankreich nach Lausanne führte, zunächst an die EPFL, später an die Universität Lausanne. Dort lehrt er zu den Fragen der digitalen sozialen Interaktion und ihrer Nachverfolgbarkeit, die einen Reflexionsprozess auf politischer Ebene anstösst.

Das wirtschaftliche Interesse erscheint in einigen Branchen verständlich, etwa in der Industrie oder im Verkehrswesen. Sie antizipieren offenbar Entwicklungen bei den subjektiveren Tätigkeiten, warum nicht mittelfristig auch in der Bildung oder in strategischer Governance. Sollte man misstrauisch sein oder sich damit arrangieren?

Bei «objektiven» Tätigkeiten, so denke ich, sollten wir investieren und den Wandel begleiten, denn das Ergebnis wird beträchtlich sein. Bei allem «Subjektiven», bei allem, wo es – gestützt auf die steigende Zahl von Daten – um Innovation oder die Vorhersage von sozialen Tatbeständen geht, sollte man sich zunächst von der Datenqualität überzeugen: Die Menge allein reicht nicht aus. Die Einordnung von Daten in der sozialen Welt ist keine Selbstverständlichkeit, denn der jeweilige Kontext ist entscheidend für die Auslegung der Daten und für das, was zu ihrem Wert beitragen kann.

Entgegen der landläufigen Meinung ist die Prognose sozialer Tatbestände schwieriger, als eine Rakete zum Mond zu schiessen. Big Data ist ein gutes Tool zur Beschreibung, aber weniger zur Vorhersage, da es die Zukunft anhand des Vergangenen prognos­tiziert. In der Finanzbranche führt die Verwendung eines prädiktiven Trading-­Algorithmus beispielsweise zu einer Veränderung des Handelsverhaltens: Es ist un­möglich, grössere Positionen zu übernehmen, ohne den Markt zu beeinflussen. Die Prognose spielt im Wettbewerb eine entscheidende Rolle, muss aber mit Finesse gesteuert werden. Dieses Tool auf die Gesellschaft zu übertragen, ist eine noch deutlich komplexere Aufgabe und die verlockenden Versprechungen auf diesem Gebiet sind zahlreich.

In Wahrheit ist Big Data ein ziemlich kon­servatives Tool. Es für Vorhersagen zu nutzen, ist das beste Mittel, um nichts zu verändern, um Fehler zu reproduzieren statt eine Welt zu ersinnen, die erstrebenswert ist!

Wenden wir uns nun der Gegenwart zu. Was ist von der aktuellen Hyperkon­nektivität zu halten? Hat diese wirklich alles verändert?

Die wahre Schwierigkeit besteht darin, Veränderung zu denken. Wir betrachten die Welt immer aus unserem eigenen Blickwinkel und finden das normal. Angesichts einer solch weitreichenden strukturellen Veränderung, wie wir sie derzeit erleben, kann man sich eigentlich als Einzelner nicht dagegen stemmen. Die Handlungsfähigkeit und Autonomie des Einzelnen ist zwar erheblich gewachsen, dies aber in einer Umgebung, deren Zusammenhänge sich ihm grösstenteils verbergen.

«Big Data ist ein gutes Tool zur Beschreibung, aber weniger zur Vorhersage, da es die Zukunft anhand des Vergangenen pro­g­nostiziert.»

Wie sehen Sie die Zukunft des Homo digitalis? Immer mehr Gadgets? Immer stärker abhängig von der Technologie? Oder erkennen Sie bereits Anzeichen für ein Gegensteuern?

Die «Kultivierung» der Welt ist von Beginn an kontinuierlich fortgeschritten. Daraus ergibt sich eine unvermeidliche Abhängigkeit, soweit die Technik ein Mittel ist. Wird sie zum Zweck, besteht das Risiko, sich selbst zu verlieren, die Energie nicht beherrschen zu können, ebenso wenig wie die Zeit, die wir der Technik widmen.

Wie sieht es mit dem Verhältnis zur Zeit aus: Homo digitalis = Homo acceleris?

Es handelt sich spürbar um dasselbe Phänomen, denn die Digitalisierung ist vorwiegend eine zeitsparende Technik. Auch ein Nussknacker spart Zeit: Mit ihm können wir eine Nuss schneller öffnen. Die dadurch gewonnene Zeit reinvestieren wir unermüdlich in andere Dinge. Damit kommen wir wieder zur Problematik vom Abschalten und Mass­halten. Wir müssen lernen, Dinge so zu gebrauchen, wie sie uns angenehm sind, unserem Bedarf entsprechend. Ergibt sich dieser Bedarf aus wirtschaftlichen Beweggründen, mit Blick auf Wachstum, so wird das Wachstum zu einem Zweck, was positiv sein kann, aber nicht einfach so. Wie die Technik ist auch das Wachstum nicht neutral, es kann auf verschiedenste Weise geschaffen, gemessen und geteilt werden. Auch in diesem Zusammenhang müssen wir Wachstum und technische Möglichkeiten so gestalten, wie wir sie uns wünschen, um den Lebensrhythmus pflegen zu können, den wir uns wünschen. Mit anderen Worten müssen wir uns eine Frage stellen: Wird sich aus der gesteigerten Produktivität dank der Digitalisierung mehr erstrebenswerte Zeit ergeben oder werden wir sie doch wieder nur in andere Aufgaben investieren, deren einziger Zweck in der Reproduktion von Arbeit in der Denkart der industriellen Revolution besteht?

Universität Lausanne.

Boris Beaude
Kurze Fragen – kurze Antworten

Mit welchen drei Hashtags würden Sie sich selbst definieren?
#HeForShe #Commons #TheDress

Wenn Sie mit nur einer App leben müssten, welche wäre das?
Zweifellos Firefox.

Was schätzen Sie an Ihren virtuellen Freunden am meisten?
Dass sie von vornherein undefiniert sind.

Was verabscheuen Sie am meisten an den digitalen Technologien?
Ihre starke Vermehrung, die nicht dem Rhythmus unseres Körpers, unserer Organisationen, Kultur und Politik angepasst ist, und ihre Konzentration auf wenige Akteure, die über eine völlig unbegrenzte Macht verfügen, der man nicht genug Bedeutung beimisst.

Ihr digitaler Traum?
Nicht aufzuwachen.

An welche digitale Technik haben sie zuerst Ihr Herz verloren?
Zweifellos an den Amiga Ende der 1980er Jahre, der alles zuvor Dagewesene in den Schatten stellte, vor allem den Sinclair ZX81 (Anfang der 1980er). Auch der Macintosh IIci hat mir viel bedeutet.

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Mobiltelefon?
Vor allem an mein TamTam im Jahr 1995, sehr bewegend, aber wie auch bei meinem späteren Alcatel HD1 im Jahr 1997 (OLA d’Itineris) gab es nicht allzu viele Gesprächspartner…

Üben Sie heute Ihren Traumberuf aus?
Fast, ich würde es nur bevorzugen, wenn meine Tätigkeit noch kreativer wäre. Die Forschung ist eine sehr grosse ‚normative Institution‘, in der Innovation aktuell kein Selbstläufer ist. Die Aktivitäten, Auswer­tungen und Verantwortlichkeiten sind zu zahlreich, sodass man sich von der ursprünglichen Aufgabe sehr stark entfernt. Dennoch bleibt die Forschung ein Arbeits­umfeld, das mich begeistert und in dem ich viele sehr interessante Menschen treffe. Auch die Lehre ist eine echte Bereicherung, die man nicht in jedem Berufszweig findet.

Ihr Gemütszustand in diesem Augenblick: Gefällt mir oder Gefällt mir nicht?
Gefällt mir