Reportage Vertrauen: Tour d'Horizon durch ein facettenreiches Gefühl

Magazin: Vertrauen in der Gesellschaft – September 2019

Vermutung, Eindruck, Glaube, Haltung, Überzeugung, Spekulation, Erwartung, Wette – für Vertrauen finden Wissenschaftler, Wirtschaftsexperten, Politiker, Kultur- und Medienschaffende die unterschiedlichsten Beschreibungen und Synonyme. Keines ist abschliessend. Und alle sind sich in einem Punkt einig: Vertrauen ist eine der komplexesten Befindlichkeiten überhaupt.

Die hohe Kunst der Verletzlichkeit

«Vertrauen ist das Gefühl, einem Menschen sogar dann zu glauben, wenn man weiss, dass man an seiner Stelle lügen würde», so der US-amerikanische Schriftsteller und Kulturkritiker Henry Louis Mencken. Vertrauensforscher definieren Vertrauen als «Bereitschaft, sich verletzlich zu zeigen». Dazu gehört erstens der Glaube, dass der andere kein Egoist ist oder dass ein Unternehmen nicht nur den Gewinn maximieren will. Dazu gehört zweitens die Intuition, dass man sich auf Versprechungen verlassen kann. Und dazu gehört drittens die Hoffnung, dass sich Vertrauen irgendwann auszahlt. Die wissenschaftliche Definition von Vertrauen ist umstritten. Denn Begriffe wie Gefühle, Irrationalität, Verletzlichkeit, Glaube oder Hoffnung haben in der ökonomischen Welt der harten Fakten einen schweren Stand – obwohl Vertrauensbeziehungen auch und gerade hier überlebenswichtig sind.

Quellen: Prof. Dr. Antoinette Weibel, Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten,
Universität St. Gallen; Mayer, Davis & Schoorman, 1995; Rousseau, Sitkin, Burt & Camerer, 1998

Wer vertraut, ist optimistisch

Vertrauen schafft Sicherheit. Denn es gibt den Menschen das Gefühl, dass Personen oder Instanzen «die Dinge schon richtig machen». Das Schweizer Volk vertraut der öffentlichen Hand wie kaum ein anderes. Das Interessante: Das Vertrauen in die Behörden und der Optimismus der Menschen korrelieren in der Schweiz positiv. Übrigens: Die schweizerische Bundesverfassung sieht kein parlamentarisches Misstrauensvotum gegen einzelne Regierungsmitglieder oder gegen die Gesamtregierung vor.

Nation des Vertrauens

Die Schweiz ist kulturell heterogen, und der Wille des Einzelnen oder einer Gruppe zählt. Trotzdem zeichnen viele Menschen die Identität des Landes mit denselben Merkmalen. Dazu gehören ein hohes Wohlstandsniveau, verlässliche politische Institutionen, ein gutes Bildungssystem, ein stabiler Wirtschaftsstandort, ein starker Finanzplatz und eine schöne Landschaft. Die Neutralität ist ebenfalls identitätsbildend und untrennbar mit dem Staatsgedanken verbunden.

Quellen: Government at a Glance 2017, OECD; Sorgenbarometer 2018 der Credit Suisse

Ein Wort zum Wort

Vertrauen ist als Wort seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Das Mittelhochdeutsche «triuwe» bezeichnet Eigenschaften wie Treue und Aufrichtigkeit. Es hat seinen Ursprung in althochdeutschen Begriffen wie «triuwa» und «gitriuwi». Diese haben sich aus der indogermanischen Wurzel «deru» entwickelt. Ihre Bedeutung verbindet man mit den Begriffen Baum und Eiche, die für innere Festigkeit stehen. Grammatikalisch betrachtet ist «vertrauen» ein «schwaches» Verb.

Quellen: PwC-eigene Recherchen und NZZ-Serie «Vertrauen», Oktober 2018

Sicher ist sicher

Die Schweiz gilt in der internationalen Gemeinschaft als vertrauenswürdig, besonders wenn es um Bank- und Finanzdienstleistungen geht. Das hat diverse Gründe. Zum einen geht die Schweiz mit den globalen Markttrends. So wurden zum Beispiel das Bankgeheimnis oder die Steuerregimes abgeschafft. Zum anderen bietet die Schweiz eine hohe Rechtssicherheit. Dadurch wird sie ein verlässlicher Partner für Unternehmen, also ein attraktiver Standort. Und schliesslich ist mit der direkten Demokratie jede Bürgerin und jeder Bürger in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden.

Quellen: Edelman Trust Barometer 2019; exchangemarket.ch von August 2018

Digitale Ambivalenz

Das Schweizer Elektorat äussert sich gespalten zu den gesellschaftlichen Auswirkungen neuer Technologien. Trotz dem drohenden Verschwinden von Arbeitsplätzen durch den technologischen Fortschritt bezeichnen es 75 Prozent als unwahrscheinlich, dass ihr Job in den nächsten 20 Jahren automatisiert wird. Digitale Technologien schaffen einen Überblick auf dem Arbeitsmarkt und bessere Arbeitsbedingungen. Zudem fördern sie die Kreativität am Arbeitsplatz. Allerdings wächst die Angst, Arbeitnehmende müssten ständig erreichbar sein. Eine Mehrheit glaubt, die Digitalisierung würde die Gesellschaft bequemer und verletzlicher machen, die zwischenmenschliche Kommunikation abwerten und psychische Krankheiten provozieren.

Quelle: Sorgenbarometer 2018 der Credit Suisse

Verhängnisvolle Spirale

Der Begriff «Misstrauen» ist relativ neu und wird kontrovers diskutiert. Ist er das Gegenteil von Vertrauen, mit geringem Vertrauen gleichzusetzen oder hat er nichts mit Vertrauen zu tun? Die Verhaltensforschung erklärt Misstrauen als «Unwille, Verletzlichkeit zu akzeptieren, basierend auf einer allgegenwärtig negativen Wahrnehmung der Motive, Absichten oder Verhaltensweisen des Gegenübers». Misstrauen verstärkt sich selbst, da misstrauisches Denken und Handeln misstrauische Einstellungen und Verhaltensweisen bestärken. Nach jüngsten Erkenntnissen stellt Misstrauen eine eigenständige Befindlichkeit dar, da es durch andere Faktoren verursacht wird als Vertrauen. Studien der Neurowissenschaften und Neurobiologie zeigen, dass sowohl verschiedene Hirnregionen aktiviert als auch unterschiedliche Hormone freigesetzt werden, je nachdem, ob ein Mensch vertraut oder misstraut.

Quellen: Prof. Dr. Antoinette Weibel, Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten, Universität St. Gallen;
Bijlsma-Frankema et al., 2015; Dimoka, 2010; Zak, Kurzban & Matzner, 2005

Treue Alltagsbegleiter

Vom Aufstehen bis zum Zubettgehen: Marken begleiten uns Tag für Tag. Die einen lieben wir, die anderen hassen wir, den einen vertrauen wir, den anderen misstrauen wir, und wiederum andere sind uns gleichgültig. Zahlreiche Faktoren entscheiden über den Erfolg einer Marke: Qualität, Preis-­Leistungs-Verhältnis, Image. Zu den Marken, denen Schweizerinnen und Schweizer am meisten vertrauen, gehören Coop Bau+Hobby, Volkswagen, Tessin, Raiffeisen, Ricola, Die Mobiliar, Nivea, Fielmann, Burgerstein oder Emmi.

Quelle: Markenstudie «Trusted Brands 2019», Reader’s Digest

Weitsichtig investieren

Wie ein Unternehmen mit seinem Humankapital umgeht, ist einer der besten Indikatoren für seine Vertrauenswürdigkeit. Zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eröffnet sich ein enormes Vertrauenspotenzial. Dieses lässt sich als Mehrwert kapitalisieren – vorausgesetzt, das Unternehmen nimmt die Anliegen seiner Belegschaft ernst und seinen Teil des Versprechens wahr. Führungskräften gibt Vertrauen den Mut, Entscheidungen zu delegieren, Selbstverantwortung zu übernehmen und den Wandel im Unternehmen mitzugestalten. Vertrauen wirkt zudem als Kitt in Teams, die sich häufiger neu zusammensetzen und mehr Heterogenität zum Wettbewerbsvorteil umsetzen müssen. Schliesslich stärkt Vertrauen die menschliche Resilienz und schafft Ressourcen, mit der hohen Belastung und in einem immer anspruchsvolleren Umfeld zu agieren.

Quellen: Edelman Trust Barometer 2019 (Grafik); «Trust rocks! Aktives Vertrauen als Grundstein für das Gelingen der Neuen Arbeit» von Antoinette Weibel, Simon Schafheitle und Margit Osterloh

Gute Noten für die Wirtschaft

In den Augen des Schweizer Stimmvolks macht die hiesige Wirtschaft im Vergleich zur ausländischen Wirtschaft eine gute Figur. Diese Wahrnehmung stimmt mit der Realität der Zahlen überein: Auf der Liste der Länder nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf steht die Schweiz an zweiter Stelle. Trotzdem: Noch immer haben 41 Prozent der Stimmberechtigten das Gefühl, die Schweizer Wirtschaft versage oft.

Quellen: Sorgenbarometer 2018 der Credit Suisse; Internationaler Währungsfonds IWF, April 2018; Bundesamt für Statistik

Sehnsucht nach Wahrheit

Viele Schweizerinnen und Schweizer meinen, dass es mit dem Internet leichter geworden sei, Unwahrheiten aufzudecken. Dennoch sind die meisten überzeugt, dass der Anteil an Unwahrheiten seit dem Aufkommen des Internets auch in den klassischen Medien zugenommen habe. Zwar herrscht ein hohes Vertrauen in offizielle und staatliche Quellen. Doch bei Alltagsentscheidungen vertraut man lieber auf das Bauchgefühl statt auf Fachwissen. Das Verbreiten von Unwahrheiten und falschen Nachrichten wird als reale Gefahr für die direkte Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewertet.

Quelle: «Wahrheit und Lüge in Zeiten von Fake News – Einstellung der Schweizer Bevölkerung», Meinungsforschungsinstitut sotomo, im Auftrag von Stapferhaus Lenzburg, Oktober 2018

Alte Themen, neue Sorgen

Herr und Frau Schweizer sind zufrieden, zumindest im internationalen Vergleich. Die Top-Sorge Arbeitslosigkeit verliert an Bedeutung, die Digitalisierung verursacht weniger Jobverlustängste. Und trotzdem bleibt viel zu tun. Die drängendsten Probleme der Schweizer Bevölkerung sind Rente, Gesundheit und Migration. Jeden sechsten Befragten beschäftigen materielle Ängste. Die Sorgenwahrnehmung im Bereich Löhne und neue Armut nimmt zu. Die Ungleichheit in der Gesellschaft verschärft sich und die Zahl der sogenannten Working Poor steigt.

Quelle: Sorgenbarometer 2018 der Credit Suisse

Der Sprung ins kalte Wasser

Als Vertrauenssprung bezeichnet die Wissenschaft eine sich ausliefernde und hingebende Handlung, die als Form von Vertrauen die eigene Verletzlichkeit gegenüber dem Vertrauensnehmer erhöht. Denn nur wer sprichwörtlich «ins kalte Wasser springt», erfährt, ob sein Vertrauen gerechtfertigt war. Vertrauen bedeutet also immer auch, sich einzulassen, nicht alles wissen, erklären oder rechtfertigen zu können – und ist deshalb umso zentraler. Demnach tun die Unternehmen gut daran, Intuition und Bauchentscheidungen zuzulassen und sie als Teil der Unternehmenskultur zu fördern. Dazu müssen sie Irrationalität als Schlüsselkomponente der Zusam­menarbeit begreifen.

Quellen: Prof. Dr. Antoinette Weibel; Möllering, 2006; Zand, 1972

Ohne Daten, keine Taten

Die Bedenken der Schweizerinnen und Schweizer, persönliche Daten ins Internet zu stellen, steigen. Am stärksten gilt diese Skepsis für die Preisgabe der Kontonummer, die Veröffentlichung persönlicher Videos oder Fotos, die Offenlegung von Krankheiten sowie Statusmeldungen auf Social Media. Herr und Frau Schweizer fühlen sich vermehrt von Digitalkonzernen wie Google oder Facebook bedroht. Die zunehmende Skepsis gegenüber Online-Zahlungen schärft das Bewusstsein rund um die Passwortpflege. Gleichzeitig glauben mehr Schweizerinnen und Schweizer, der Datenschutz sei in der Schweiz gut geregelt.

Quelle: Datenvertrauensstudie 2019 von comparis.ch

Harte Währung mit weichen Zügen

Geld ist fragil. Denn der Wert einer Währung richtet sich nach dem Vertrauen, das wir ihr schenken. Die Schweiz hängt stark von der Entwicklung des Schweizer Frankens ab. Dieser gilt schon lange als vertrauenswürdig und als Fluchtwährung Nummer eins. Das hat unter anderem mit dem ausgeprägten Vertrauen in die Schweizer Rechtsstaatlichkeit und mit der hohen Preisstabilität in der Schweiz zu tun. Geld funktioniert nur dann als stabile Recheneinheit und Mittel zur Werterhaltung, wenn die Gesellschaft davon ausgeht, dass es diese Funktionen auch in Zukunft noch ausüben wird.

Quellen: PwC-eigene Recherchen und «Zerfällt das Vertrauen in Geld, zerfällt auch die Gesellschaft», NZZ vom 12.10.2018

9 Regeln für den glaubwürdigen CEO

  1. Führung bei Veränderungen übernehmen
  2. Klare Position zu Schlüsselthemen beziehen
  3. Sich zeigen, innerhalb und ausserhalb mdes Unternehmens
  4. Persönliches kommunizieren, etwa seine Werte oder seine Erfolgsgeschichte
  5. Greifbar bleiben und die Sprache der Menschen sprechen
  6. Entscheidungen treffen, die auf Daten und Fakten basieren
  7. Regelmässig und direkt kommunizieren
  8. Die Mitarbeitenden in den Mittelpunkt stellen, nicht sich selber
  9. Firmenwerte vorleben

Quelle: Edelman Trust Barometer 2019

Der Umwelt zuliebe

Die Sorge um den Zustand der Umwelt ist für rund ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung eines der zentralsten Themen. Seit 2006 wurde nicht mehr ein so hoher Wert auf der Sorgenskala erreicht wie 2018. Mit ein Grund dafür war der aussergewöhnliche Hitzesommer 2018. Die «Fridays for Future»-Bewegung dürfte die Sensibilität für den Klimaschutz und die fortschreitende Erderwärmung verstärkt haben.

Quellen: PwC-eigene Recherchen und Sorgenbarometer 2018 der Credit Suisse