Text: Redaktion ceo, Universität St. Gallen | Bilder: Redaktion ceo | Magazin: Work in progress – November 2020
Die Arbeitswelt verändert sich, und mit ihr auch die Führungskultur in den Unternehmen, sagt Heike Bruch. Führungskräfte müssen gerade jetzt nach den Corona-Erfahrungen New Work und Leadership mutig und verantwortungsvoll neu gestalten, erklärt die Professorin für Leadership an der Universität St. Gallen. Sie forscht und coacht auf den Gebieten «New Work Transformation», «Energie, Speed und Dynamik» und «Leadership der Zukunft».
Welches sind die auffälligsten Veränderungen in der Arbeitswelt in den letzten Jahren?
Unternehmen lösen sich schrittweise von den traditionellen hierarchischen Strukturen und entwickeln sich zu Netzwerkorganisationen mit vielen kleinen Teams. Sie können schneller und flexibler agieren als früher, sind innovativer geworden und sie versuchen, Freiräume zu bieten. Zum einen, um mit der rasanten Geschwindigkeit Schritt zu halten und um Veränderung und Eigeninitiative zu unterstützen. Zum anderen, um ihre Attraktivität als Arbeitgebende zu steigern.
Was erwarten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der Arbeitswelt der Zukunft?
Die Individualisierung bringt die verschiedenen Bedürfnisse der Einzelnen zum Vorschein. Den einen sind flexible Arbeitszeiten und freies projektbasiertes Arbeiten wichtig. Andere benötigen weiterhin feste Strukturen und geregelte Zeiten. Es wollen bei Weitem nicht alle einfach mehr Freiheiten. Denn mehr Spielraum, Freiraum und Flexibilität bedeuten auch mehr Verantwortung und erfordern erhöhte Selbstkompetenzen, vor allem Abgrenzungskompetenz. Das zeigt sich auch bei der Einführung von mobilem Arbeiten und Home-Office. Einen schlagartigen Zuwachs in der Nutzung von mobil-flexiblen Arbeitsformen sehen wir in der COVID-19-Krise. Es gibt jedoch auch kaum Alternativen. Mobiles Arbeiten ist mitunter anspruchsvoller, da die Grenzen von Beruf und Privatem verschwimmen. Die Gefahr der Vereinsamung besteht und eine viel stärkere Selbstführung ist nötig. Einigen liegt dies sehr, während andere lieber in der Firma arbeiten.
Und was wünschen sich die Unternehmen?
Arbeitswelt der Zukunft heisst, dass Führungskräfte das, was sich Unternehmen und Mitarbeitende wünschen, viel stärker zusammenbringen. New Work ermöglicht es, dass Mitarbeitende flexibler, eigenverantwortlicher und engagierter im Sinne der Organisation arbeiten und hierfür die besten Rahmenbedingungen bekommen. Das ist auch der Ansatz des «Unbossing», bei dem Barrieren, starre Strukturen oder hierarchische Vorgaben so reduziert werden, dass Menschen ihre Ziele ohne Störung erarbeiten können. Gleichzeitig funktionieren Arbeitsweisen mit viel Empowerment und Wahlfreiheiten nur, wenn neben den Selbstkompetenzen auch die Kulturvoraussetzungen vorliegen. Und bei einer New-Work-Kultur spielen klassische Werte wie zum Beispiel Vertrauen, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein oder Loyalität eine Schlüsselrolle. Diese Tugenden klingen traditionell, wenn nicht gar veraltet, sind jedoch essentiell für den Erfolg in einer komplexen, hoch vernetzen und von rasanten Veränderungen gekennzeichneten Zeit.
Heike Bruch (53) ist seit 2001 Professorin für Leadership an der Universität St. Gallen und leitet dort das Institut für Führung und Personalmanagement. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit in Forschung und Praxis sind «New Work Transformation», «Energie und Dynamik» und «Leadership der Zukunft». Sie zählt zu den führenden Wissenschaftlerinnen in der Personalforschung im deutschsprachigen Raum sowie zu den 100 erfolgreichsten Frauen der Schweiz. Studiert und gearbeitet hat sie an der Freien Universität Berlin, der Universität Hannover sowie an der London Business School. Heike Bruch begleitet Führungskräfte in Wirtschaft und Politik und ist Gründerin der energy factory St. Gallen.
Die New Work Transformation ist in vollem Gang. Was bedeutet der Begriff?
Die New Work Transformation beschreibt den Wandel der Arbeitswelt von klassisch ortsgebundener, stark hierarchischer Arbeit hin zu einer Netzwerkorganisation mit starker mobil-flexibler Arbeit, reduzierter Hierarchie und fluiden Strukturen. Mehr als 90 Prozent der Unternehmen befanden sich schon vor Corona in einer New Work Transformation. In diesem Kontext verändern sich Berufsprofile und Anforderungen an die Arbeit disruptiv. Technologie ist dabei ein gewaltiger Treiber. Das stellt eine unglaubliche Chance dar, insbesondere auch für junge Menschen. Sie bringen eine andere, moderne Einstellung zur Arbeit und zur Technik mit.
Die nicht alle haben werden …
Ein eher düsteres Szenario, das es auch gibt: Es wird in dieser Entwicklung Gewinner geben, aber auch Verlierer. Das hohe Tempo der technologischen Entwicklung führt dazu, dass gewisse Qualifikationen nicht mehr gebraucht werden. Phänomene wie Erschöpfung, Überforderung oder Isolation des Einzelnen können massiv zunehmen.
Was liesse sich dagegen tun?
Wir müssen jetzt die Weichen stellen in Richtung eines positiven Szenarios. Hier ist die Führung in den Unternehmen gefordert, aber auch die Bildungsinstitutionen, die Politik und die Gesellschaft als Ganzes – jede und jeder Einzelne.
Im globalen Vergleich: Wo stehen Schweizer Arbeitgebende in der New Work Transformation?
Einige US-Unternehmen, vor allem aus dem IT-Sektor, sind weiter als Unternehmen hier. Die Branche gilt als Vorbild für Tempo, digitales Arbeiten, neue Arbeitsformen und Kundenbeziehungen. Die grosse Menge der Unternehmen in den USA und in Asien ist weniger weit. Ihnen fehlt, was in Westeuropa und der Schweiz eine besondere Stärke ist. Wir haben im Vergleich eine demokratischere Kultur, in der eine gesunde Form der Zusammenarbeit auf Augenhöhe stattfindet und Kompetenzen gezielt weiterentwickelt werden. Darauf sollten wir aufbauen. Es gibt aber auch in der Schweiz noch einiges aufzuholen. Lücken bestehen etwa in Bezug auf innovatives oder unternehmerisches Handeln. Die Risikobereitschaft ist weniger ausgeprägt.
Was machen die Erfolgreichen anders?
Die New Work Transformation muss in die Tiefenstrukturen gehen und mit Mut, Konsequenz und einer gewissen Systematik umgesetzt werden. Leadership und Unternehmenskultur machen den Unterschied, das hat eine Studie in der aktuellen Krise gezeigt. Diejenigen Unternehmen, die bereits zuvor entscheidende Hebel im Sinne einer transformationalen Führung, von Vertrauen und flexiblen Kollaborationsformen nutzten, waren bereits vorher erfolgreicher und meistern auch jetzt die Krise signifikant besser. Andere haben in der Corona-Zeit nur die Elemente von New Work gestärkt, die unausweichlich waren: Home-Office, virtuelle Zusammenarbeit und digitalisierte Kommunikation. Sie geraten jetzt in eine Phase, bei der eine Sehnsucht nach Führung, Vorbildern und Kulturspielregeln aufkommt. Ein Teil der Unternehmen begeht aktuell den Fehler, sich wieder zurück in Richtung «Command and Control» zu bewegen. Obwohl die Krise verlangt, eine stärkere Orientierung zu geben und gewisse Dinge klar von oben vorzugeben, sind autoritäre oder übertransaktionale Führung kontraproduktiv. Es gilt auch, die Krise mit moderner Führung zu bewältigen. Erfolg werden Unternehmen haben, die ihren Führungskräften und Mitarbeitenden Wahlfreiheit geben und individualisierte Modelle anbieten. Und zwar solche, die es zum einen ermöglichen, die Arbeit so zu gestalten, dass man die Aufgaben optimal erfüllen kann, und zum anderen dem Einzelnen die Wahl geben, so dass die Arbeitsform zu Fähigkeiten und Präferenzen passt.
Das Institut für Führung und Personalmanagement (IFPM) der Universität St. Gallen fokussiert auf Forschung, Lehre und Praxisbegleitung in den Bereichen Leadership und Human Resource Management. Prof. Heike Bruch und ihr Team arbeiten sehr eng mit Unternehmen und einem internationalen Forschungsnetzwerk zu praxisrelevanten Fragen auf Gebieten wie Energie und Dynamik, Leadership-Kultur, Healthy Performance und New Work zusammen. Empirisch fundierte und praxiserprobte Erkenntnisse gehen in die Lehre, Weiterbildung für Führungskräfte aus der Praxis und die Unternehmens-Kooperationen ein – nach der Leitidee der Universität St. Gallen «From Insight to Impact». Zum Thema New Work rief Prof. Heike Bruch 2015 das Firmenkonsortium «Pioneering – Future Leadership & Work» ins Leben.
www.ifpm.unisg.ch
Welchen Stellenwert hat Führung generell in der Arbeitswelt der Zukunft?
Ein verbreitetes Missverständnis unserer Zeit ist, dass Führung weniger wichtig ist oder gar nicht mehr gebraucht wird. «Unbossing» ist generell wichtig, wird es jedoch falsch verstanden und die Führung geschwächt, führt das zu «Laissez-faire»-Führung. Gebraucht wird vielmehr eine moderne Form der Führung, die neue Spielregeln setzt.
Welche Rolle spielt die Führung im Transformationsprozess?
An die Stelle tradierter Führungsstile soll eine neue, inspirierende Führung treten. Eine, die das Verständnis weckt für den Sinn der Aufgabe, Freiräume lässt und dezentrale Initiativen fördert – in der die Ziele gemeinsam statt «top down» gesetzt werden. Diese Art der transformationalen Führung gilt heute empirisch als effektivste Form der Führung, auch in Krisen. Im Kontext von New Work wird sie erfolgsentscheidend.
«Ein verbreitetes Missverständnis unserer Zeit ist, dass Führung weniger wichtig ist oder gar nicht mehr gebraucht wird.»
Führen heisst aber mehr als inspirieren.
Zentral ist Inspiration. Dazu sollte ein breiteres, beidhändiges Führungsspektrum kommen, das die Anforderungen in unterschiedlichen Aufgabenkontexten auch unterschiedlich adressiert: So gibt
es Kontexte, die höchste Anforderungen an Präzision, Qualität und Effizienz stellen. Diese bleiben in vielen Unternehmen wichtig und müssen von der Führung unterstützt werden. Zusätzlich gibt es in zunehmendem Ausmass Aufgabenkontexte, bei denen es viel mehr als bisher um Innovation, Kreativität und eine Start-up-Logik geht. Diese Anforderungen gilt es anders zu unterstützen. Beide Führungsformen, die ergebnisorientierte und die explorative, sind wichtig und sollten sehr klar kommuniziert und explizit verwendet, aber nicht vermischt werden.
Was bedeutet die Übernahme der Vorbildfunktion?
Andere für ihre jeweilige Aufgabe zu begeistern, zum Mitdenken anzuregen und die Zusammenhänge zu erkennen, sind zentrale Funktionen von Führung. Dies gilt jedoch nicht nur für die unteren Führungsebenen – vor allem das oberste Management muss ein sichtbares Vorbild für moderne Arbeitsweisen sein. Gerade in der Corona-Krise wurde dies oft vermisst und es gab vermehrt von mittleren Führungskräften einen Ruf nach mehr Orientierung und sichtbaren Vorbildern an der Spitze.
Welche Rolle spielt dabei Vertrauen?
Vertrauen war schon immer wichtig, aber es wird jetzt zu der entscheidenden Voraussetzung für wirksame Führung und Zusammenarbeit in einer modernen Arbeitswelt. New Work bedeutet, dass künftig freier, selbstbestimmter und vermehrt virtuell gearbeitet wird, in wechselnden Teams, mit Menschen, die man eventuell noch nie persönlich gesehen hat. Nur wenn Führungskräfte vollstes Vertrauen haben, können sie loslassen und ihre Mitarbeitenden eigenverantwortlich arbeiten lassen. Nur so wird das Team vollen Einsatz zeigen und gemeinsam das erarbeiten, was möglich ist.
Heike Bruch - Ganz persönlich
Wo standen Sie vor 20 Jahren in Ihrem Leben?
Ich kam damals aus London als Professorin zurück an die Universität St. Gallen und war voller Tatendrang.
Hätten Sie vor 20 Jahren gedacht, dass Sie heute in dieser Führungsposition sind?
In so weite Ferne schaute ich damals nicht. Aber wir am Institut haben als Team einiges erreicht, das ich nicht gedacht hätte. Anderes hatte ich mir einfacher vorgestellt.
Was ist Ihre persönliche Vision der Arbeitswelt der Zukunft?
Meine Vision und die in unserem Team ist, eine Arbeitswelt, in der jede(r) Einzelne mit vollem Engagement arbeitet und diese persönliche Energie dafür nutzt, um verantwortungsvoll unsere Zukunft zu gestalten.
Worauf legen Sie Wert bei der Führung Ihrer Mitarbeitenden?
Wichtig ist mir, dass wir uns mit unserer Arbeit für das einsetzen, was für Gesellschaft und Wirtschaft wichtig ist. Ebenfalls, dass wir alle im Team wissen, welchen Einfluss unsere Arbeit auf Studierende und Unternehmen hat, und diese Verantwortung bewusst annehmen. Wir wollen Unternehmen so unterstützen, dass sie verantwortungsvoll die Zukunft gestalten und gemeinsam mit ihnen Wissen erarbeiten, das anderen Führungskräften Orientierung und Energie für ihre Führungsaufgaben gibt. Der Leitsatz für unsere Arbeit ist dabei «responsibly shaping the future».
Ihr aktuell wichtigstes Projekt?
Die Frage, an der wir gerade besonders arbeiten, lautet: Wie verändert sich Führung im Kontext von New Work? Und wie sieht verantwortungsvolle Führung aus? Diese Fragen sind generell entscheidend für die Zukunft. Gerade in Zusammenhang mit den Auswirkungen von COVID-19 werden sie unfassbar aufgewertet. New Work, Leadership, Verantwortung – diese Themen sind
in dieser Krise bedeutend schwieriger und gleichsam von enormer Wichtigkeit.
Ihr Tipp an Führungspersonen? An CEOs?
Mut, Begeisterungsfähigkeit und Resilienz sind entscheidend.