Von Mut und
Selbstüberschätzung

Magazin: Aus Mut gemacht – Oktober 2022

 

Ist es mutig, sich aus 39 Kilometern Höhe aus einem Heliumballon in die Tiefe zu stürzen? Genau das tat der österreichische Extremsportler Felix Baumgartner am 14. Oktober 2012. Ungeachtet der Tatsache, dass der Sprung von einem grossen Team über viele Monate hinweg minutiös vorbereitet worden war, barg er für den Basejumper ein nahezu unkalkulierbares Risiko. Niemals zuvor hatte jemand etwas Vergleichbares gewagt. Entsprechend laut fielen dann auch die Jubelschreie Baumgartners aus, als er den Erdboden lebend erreichte.

 

Zu Recht darf man sich fragen, worin der Nutzen der Aktion lag. Wenn die Erregung weltweiter Aufmerksamkeit das Ziel war: Der mediale Hype um den Sprung war riesig, Ziel erreicht.

Red Bull, Financier des tollkühnen Unterfangens, beeilte sich jedoch, mitzuteilen, dass nicht der Rekord der eigentliche Zweck der Mission gewesen wäre, sondern der wissenschaftliche Nutzen und der Versuch, «Menschen zu inspirieren, Grosses zu wagen». Angesichts solcher Taten kommen einem die eigenen Versuche, «Grosses zu wagen», eher armselig vor. Doch wer möchte nicht mutig sein, ein leuchtendes Vorbild abgeben, andere inspirieren? Um dieses Ziel zu erreichen, unternehmen Menschen oft verrückte Dinge. Erklären lassen sich solche «Heldentaten» meist nur schwer.

Einen Ansatz lieferten die amerikanischen Psychologen David Dunning und Justin Kruger mit dem nach ihnen benannten Effekt. Demnach überschätzen inkompetente Menschen ihre eigenen Fähigkeiten auffällig oft – während sie gleichzeitig die Leistungen kompetenterer Menschen unterschätzen. Das Dilemma: Es ist ihnen noch nicht einmal bewusst. Erstmals beschrieben die beiden Psychologen den Effekt im Jahr 1999. Im Rahmen einer Studienreihe hatten sie Studierende unter anderem Logik- und Grammatiktests bearbeiten lassen. Im Anschluss mussten die Teilnehmenden einschätzen, wie gut sie die Aufgaben im Vergleich zu den anderen Proband:innen gelöst hatten. Das Resultat fiel unerwartet aus: Diejenigen mit den schlechtesten Ergebnissen waren am meisten davon überzeugt, die besten Lösungen gefunden zu haben. Noch erstaunlicher: Dieses Gefühl der (vermeintlichen) Überlegenheit blieb selbst dann bestehen, als sie die Resultate der besseren Teilnehmenden gesehen hatten.

Wer das für absurd hält, muss sich nur im eigenen Alltag umschauen. Der Dunning-Kruger-Effekt begegnet uns häufiger, als man annehmen möchte. Stellenbewerber:innen, die sich trotz wiederholter Misserfolge weigern, ihre Bewerbung ihrem tatsächlichen Profil anzupassen; Führungskräfte, die taub für gute Ideen aus ihrem Team sind, obwohl diese besser sind als vieles, was sie selbst entwickeln; Sportler:innen am Ende ihrer Karriere, die nicht abtreten wollen, weil sie glauben, die jüngere Konkurrenz noch immer besiegen zu können. Diese Reihe liesse sich wohl noch endlos fortsetzen. Wirklich mutig wäre es, genau die andere Richtung einzuschlagen – was viele selbst jedoch als Scheitern empfinden würden. Und genau das ist vielleicht das Mutigste.