Wachstum ist für viele Unternehmen ein wesentlicher Pfeiler des Erfolgs und ein strategisches Ziel. Sie wollen damit ihre Marktstellung, ihren Wert und ihre Rentabilität steigern. «Wachstum ist bei den meisten Firmen hochwillkommen», sagt Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. «Sie sehen darin unternehmerische Chancen – zum Beispiel, weil sie dadurch eine gewisse Marktmacht und vielleicht sogar eine Monopolstellung erreichen können.» Doch für eine erfolgreiche Existenz müssen Unternehmen nicht zwingend ihre Betriebsgrösse ausweiten. Statt eines quantitativen ist auch ein qualitatives Wachstum möglich. «Besonders kleinere Organisationen können sich auf eine Nische konzentrieren und trotz stabiler Firmengrösse erfolgreich existieren», erklärt Mathias Binswanger.
Vom Wachstum in die Überhitzung
Firmen, die aus eigener Kraft wachsen, bieten in der Regel Produkte oder Dienstleistungen an, die bei ihren Kund:innen begehrt sind. Dieser Erfolg ist positiv, kann aber zur Falle werden. Bleibt die Auslastung lange Zeit hoch, steigt der Druck auf die Mitarbeitenden. Es droht eine Art Überhitzung mit negativen Auswirkungen auf das Betriebsklima. «Eine zu hohe Auslastung sollte kein Dauerzustand sein. Sonst kann es zu Krankheitsausfällen, Kündigungen oder sogar zu riskanten Fehlern kommen», betont Mathias Binswanger. Es ist Aufgabe der Führungskräfte, Wachstumsphasen positiv zu gestalten: durch offene Kommunikation, effiziente Abläufe, das Setzen von
Prioritäten. Und zum richtigen Zeitpunkt durch die richtigen Investitionen – etwa
in neue Technologien oder zusätzliche Fachkräfte.
Schwierige Personalrekrutierung
Qualifizierte Mitarbeitende zu finden und an das Unternehmen zu binden, stellt jedoch für viele Organisationen eine wachsende Herausforderung dar. Gründe dafür sind die grosse Nachfrage nach Fachkräften – ganz besonders in technischen und in Gesundheitsberufen – sowie die veränderten Erwartungen von Mitarbeitenden an ihre künftigen Arbeitgeber:innen. «Das Problem ist zum Teil hausgemacht. Die Schweizer Wirtschaft hat sich daran gewöhnt, dass sie bei Bedarf Mitarbeitende aus dem Ausland rekrutieren kann», so Mathias Binswanger. «Das birgt langfristig die Gefahr, dass Fähigkeiten verloren gehen.» Mit verschiedenen Massnahmen versuchen Firmen dagegen zu lenken: Zum Beispiel, indem sie flexible Arbeitsformen ermöglichen
und mehr in die Aus- und Weiterbildung sowie in die Entwicklung ihrer Mitarbeitenden investieren.
Strukturen anpassen und
Kultur pflegen
Haben Organisationen das Recruitment erfolgreich gestaltet, müssen die Firmenstrukturen laufend an die wachsende Belegschaft angepasst werden. Kann man sich in kleinen Betrieben oft spontan und mündlich austauschen, müssen in reiferen Organisationen Prozesse gestaltet, Verantwortlichkeiten festgelegt und Regeln sowie Vorschriften definiert werden. «Grössere Firmen brauchen mehr Managementsysteme. Damit ist jeweils eine gewisse Anonymisierung verbunden, und die Gefahr von Bürokratie wächst», erklärt Mathias Binswanger. Es gelte, zweckmässige Strukturen zu schaffen, damit die besonderen Stärken einer Unternehmung mit dem Wachstum nicht verloren gehen.
Aufgrund der vielfältigen Herausforderungen muss Wachstum immer eine strategische Entscheidung sein und darf nicht zufällig passieren. Firmen sollten sich im Klaren sein, wie stark sie expandieren wollen, und das Für und Wider abwägen.
Wachstumsphasen sind mit Unsicherheiten verbunden
Generell erfordern Wachstumsphasen von Unternehmen eine besondere Wachsamkeit. «Die Unwägbarkeiten sind grösser als in Zeiten einer gleichmässigen Entwicklung.» Neue Mitarbeitende, erweiterte Produktionskapazitäten oder Marketingaktivitäten machen zusätzliche Investitionen nötig. Meistens stehen den Kosten für diese Investitionen nicht sofort steigende Umsätze und Gewinne gegenüber – es dauert oft eine gewisse Zeit, bis Investitionen Früchte tragen. «Die Kosten können in einer Wachstumsphase unverhältnismässig ansteigen, während Umsatz und Gewinn sich nicht genau abschätzen lassen», gibt Mathias Binswanger zu bedenken. Aus diesen Gründen müssen Expansionsschritte gut vorbereitet werden. Eine sorgfältige Investitions- und Finanzplanung sowie eine kontinuierliche Kostenkontrolle helfen, Investitionen und Rentabilität im Gleichgewicht zu halten.
Monitoring der Chancen und Risiken
Auch wenn Firmen alle Hausaufgaben gemacht haben: Die Wachstumsentwicklung liegt nicht gänzlich in ihren Händen. Externe Faktoren wie die Konjunktur oder die Angebote von Mitbewerbern tragen ebenfalls massgeblich dazu bei. Auch neue Vorschriften und Gesetze haben das Potenzial, den Unternehmenserfolg zu steigern oder zu schmälern. Unternehmen müssen deshalb mit einem professionellen Monitoring Risiken und Chancen im Blick behalten. «Auch wenn dies je nach Markt sehr anspruchsvoll ist: Eine vorausschauende Planung ist für ein nachhaltiges Wachstum elementar», sagt Mathias Binswanger. «Vom IST-Zustand auszugehen und zu denken, dass sich die Entwicklung im gleichen Stil fortsetzt, ist bei sich schnell ändernden Marktbedingungen die falsche Strategie.»
Wachstum ist eine strategische Entscheidung
Aufgrund der vielfältigen Herausforderungen muss Wachstum immer eine strategische Entscheidung sein und darf nicht zufällig passieren. Firmen sollten sich im Klaren sein, wie stark sie expandieren wollen, und das Für und Wider abwägen. «Führungskräfte dürfen nicht nur die Vorteile des Wachstums sehen, sondern müssen auch die Folgen bedenken», unterstreicht Mathias Binswanger. Eine gewisse Vorsicht sei angezeigt: «Es ist
ein oft gemachter Managementfehler, dass in Wachstumsphasen zu schnell expandiert wird.» Bevor Investitionen getätigt und zusätzliche Mitarbeitende eingestellt werden, sollten Entscheidungstragende analysieren, wie nachhaltig das aktuelle Wachstum ist. Handelt es sich um ein kurzfristiges Phänomen oder um eine langfristige Marktentwicklung? Für Mathias Binswanger ist dies eine entscheidende Frage.