Bildung als Chance für mehr
soziale Nachhaltigkeit

Text: Simon Eppenberger | Bilder: Marc Welti | Magazin: Grüne Chance – November 2021

Karitative Organisationen arbeiten zunehmend mit wirtschaftlichen Ansätzen. Denn beim Engagement für eine gerechtere Welt reichen gute Absichten und ein bekannter Name langfristig nicht mehr aus.

Martin Bachofner studierte Jura in St. ­Gallen, Wirtschaft in Liechtenstein – und ahnte damals nicht, dass ihn sein Weg einst in die saftig grünen Hügel von Appenzell Ausserrhoden führen wird. Dort ist er im Dorf Trogen seit rund einem Jahr der Geschäftsleiter einer international geschätzten Organisation, der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi. Diese wird 2021 nicht nur 75 Jahre alt, sondern befindet sich mitten in einem Veränderungsprozess.

Dafür hat der Stiftungsrat mit Bachofner eine Persönlichkeit engagiert, welche in der Verbindung von Ökonomie und sozialer Nachhaltigkeit keinen Widerspruch sieht – sondern vielmehr eine Dringlichkeit. Er führt die Stiftung wie ein KMU, das wirtschaften muss. «Wir sind gegenüber allen Spenderinnen und Spendern verpflichtet», sagt der gebürtige Berner.

Nicht nur durch ein Sparprogramm soll das negative Betriebsergebnis in zwei Jahren wieder ausgeglichen sein. «Wir leben von der bekannten Marke. Aber wir müssen uns wandeln, wenn wir unsere Stärken nicht verlieren und in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wollen», sagt der 48-Jährige nüchtern. 

Die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi wurde 1946 gegründet, um Kriegswaisen aufzunehmen. Während Jahrzehnten lebten Flüchtlinge im Kinderdorf in Trogen (AR). Das änderte sich vor sieben Jahren, als sich die Stiftung darauf konzentrierte, benachteiligten Kindern in zwölf Ländern vor Ort eine bessere Bildung zu ermöglichen. Davon profitieren rund 200’000 Schülerinnen und Schüler. In der Schweiz ist das Kinderdorf ein Ort für den kulturellen Austausch. Unterstützt wird die Stiftung von über 55’000 Spenderinnen und Spendern sowie aus Nachlässen und Zuwendungen der öffentlichen Hand.

www.pestalozzi.ch

Befristete Hilfe

Wirtschaftlichkeit ist für ihn aber nur Mittel zum Zweck. Wichtiger ist Bachofner die Sinnhaftigkeit seiner Tätigkeit. Sein Antrieb ist, möglichst vielen benachteiligten Kindern im Ausland den Zugang zu einer guten Bildung zu ermöglichen. Und in der Schweiz den kulturellen Austausch und die Medienkompetenz unter Jugendlichen zu fördern.

Denn Flüchtlingskinder wohnen im Kinderdorf in Trogen seit 2014 keine mehr. Bereits in den 1980er-Jahren hatten die Verantwortlichen erkannt, dass man mit der Unterstützung vor Ort langfristig viel mehr bewirken kann, als in der Schweiz 120 Kinder zu beherbergen. Heute ist eine Kernaufgabe der Stiftung das weltweite Engagement. In rund 800 Schulen in einem Dutzend Länder ist sie aktiv. Dort werden lokale Lehrkräfte und Partnerorganisationen ausgebildet – während maximal neun Jahren.

«Zu oft ist zu sehen, wie Nachhaltigkeit als Verkaufsargument instrumentalisiert wird.»

Laut Bachofner ist das eine gute Zeitspanne, um eine nachhaltige Verbesserung für die Kinder zu erreichen. «Wir wollen keine Abhängigkeit provozieren oder uns unentbehrlich machen. Unser Ansatz ist, Kompetenzen in der Bildung und dem Kinderschutz weiterzugeben und damit zu erreichen, dass sie von den lokalen Fachkräften selbstständig und damit nachhaltig weiterentwickelt werden können», sagt er.

Die Auslandstrategie hat sich bewährt und soll nun stark ausgebaut werden. Das Wachstumsziel ist ambitioniert: «Bis 2030 wollen wir 400’000 Kinder erreichen», sagt er. Heute profitieren gut 200’000 Kinder von den Einsätzen der Stiftung. Um dieses Ziel zu erreichen, genügen klassische Spenden allein nicht.

Martin Bachofner (48) ist in der Nähe von Bern aufgewachsen, studierte an der HSG St. Gallen Jura und schloss in Liechtenstein das Wirtschaftsstudium mit dem Master in Business Administration ab. Er arbeitete unter anderem für das Verlagshaus Marquard Media in München, im Finanzsektor in Liechtenstein und schliesslich während sieben Jahren als Geschäftsführer von Gstaad-Saanenland Tourismus. Vor seinem Engagement für die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi war er CEO der Tourismusorganisation Bern Welcome. Bachofner wohnt in Trogen und Lyss, wo er mit seiner Tochter und den zwei Söhnen seiner Partnerin in einer Patchworkfamilie lebt.

Neue Geschäftsmodelle

Hinzu kommt ein grosser Investitionsbedarf in der Schweiz. Im Kinderdorf trafen sich vor der COVID-19-Pandemie zwar jährlich mehrere Tausend junge Menschen aus dem In- und Ausland, um sich mit Rassismus, Diskriminierung und dem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen oder ein Jugendradio zu betreiben. Das soll auch wieder möglich sein.

Doch in Trogen sind viele der rund zwei Dutzend Gebäude in die Jahre gekommen, bei einigen blättert die Farbe ab und sie sind baufällig. Die Erneuerung wird viel kosten, doch das sieht Bachofner auch als Chance: «Heute kommen wir auf 25’000 Logiernächte. Das lässt sich ausbauen und wir wollen neue, touristische Geschäftsmodelle entwickeln.»

Zu Neuerungen gezwungen wurde die Stiftung auch durch die Pandemie. Während im Ausland die Umstellung auf Nothilfe auf der Hand lag, durften die Kinder und Jugendlichen in der Schweiz nicht mehr nach Trogen reisen. Kurzerhand entwickelten die Bildungsverantwortlichen Workshops zu Kinderrecht, welche in den Klassenzimmern stattfinden konnten. Und mit einem mobilen Radiostudio suchten sie die Schulen auf, um 11- bis 13-Jährige im bewussten Umgang mit sozialen und klassischen Medien zu schulen und sie für die verhängnisvolle Dynamik von Fake News und Hass zu sensibilisieren. Bachofner lächelt, wenn er die begeisterten Rückmeldungen der Kinder schildert.

«Wir wollen keine Abhängigkeit provozieren oder uns unentbehrlich machen.»

Die Ehrlichkeit und das Engagement der Jungen bei der Auseinandersetzung mit sozialen Fragestellungen würde laut Bachofner auch viele Firmen weiterbringen. Da am Markt die Nachfrage nach verantwortungsbewussten und transparenten Produkten steigt, müssen Unternehmen früher oder später darauf reagieren. «Das führt nicht immer zu einem echten Umdenken. Zu oft ist zu sehen, wie Nachhaltigkeit als Verkaufsargument instrumentalisiert wird, ohne tatsächlich dahinterzustehen.» Andere Unternehmen würden nicht einmal diesen Schritt gehen, sondern seien lieber karitativ tätig, um das eigene Gewissen oder jenes der Kundschaft zu beruhigen.

Für langfristig gewinnbringend hält er den integrativen Ansatz. Dabei wird die eigene Situation punkto Nachhaltigkeit gesamtheitlich und ehrlich betrachtet, Veränderungen werden aus eigener Überzeugung umgesetzt und langfristig von allen Beteiligten getragen. Bachofner ist überzeugt: «Das eröffnet neue Chancen, auch für die Gesellschaft als Ganzes. Und für Unternehmen zahlt sich das über kurz oder lang auch wirtschaftlich aus.» Deshalb hält er das Thema für eine Top-Priorität, die sich CEOs und Verwaltungsräte nicht wegdenken dürfen.

Und was bedeutet für ihn und seine Organisation soziale Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit? «Die Stiftung ist keine geschützte Werkstatt, aber wir haben selbstverständlich keine ungerechte Lohnschere, sind der Gleichberechtigung verpflichtet und fördern die berufliche Entwicklung der Mitarbeitenden.»

Auf die Frage, welches global betrachtet die grössten Herausforderungen punkto Nachhaltigkeit seien, sagt Bachofner, dass man da extrem demütig sein müsse. «Ich bin kein Nachhaltigkeitspapst, aber was wir dringend brauchen, ist weniger Gier. Wir müssen mit den natürlichen Ressourcen schonender umgehen.» Zu diesen Ressourcen gehören für Bachofner nicht nur die Umwelt, sondern auch die Menschen, die je nach Geburtsort sehr unterschiedliche Chancen im Leben haben.

Langfristige Veränderungen

Deshalb ist seine Vision für die Welt von morgen eine humane, für alle chancengleiche Gesellschaft. Auch wenn er sich als Realist bewusst ist, dass dies so nicht zu erreichen ist, bleibt er überzeugt: «Vieles ist noch möglich.» Dabei glaubt er an die langfristigen Veränderungen, welche aus einem gesellschaftlichen Druck heraus entstehen können.

Als Beispiel nennt er die Klimabewegung, die nicht zuletzt zu neuen Gesetzen und Änderungen beim Konsumverhalten beigetragen hat. Und Bachofner ist überzeugt, dass die Investition in Bildung noch immer die besten Ergebnisse erzielt. «Je mehr gut ausgebildete Jugendliche wir auf der Welt haben, desto besser gestalten sie die Zukunft.»

Für ihn geht Bildung und Wissen einher mit der Offenheit für Neues und der Bereitschaft, über das eigene Handeln nachzudenken. Dies sei die Basis für Veränderungen. Aus diesem Grund ist sein Lieblingsplatz im Kinderdorf gleich neben dem Schulhaus, von dem das Auge über das Land bis zum Bodensee schweift. «Ein weiter Blick und breiter Horizont sind elementar, um weiterzukommen.»

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Martin Bachofner – Ganz persönlich

Auf welche Errungenschaften möchten Sie in 30 Jahren zurückblicken können?
Ich will immer sagen können: Was ich getan habe, ergibt einen weiterführenden Sinn. Ich will dabei viel gelernt haben und stolz darauf sein können.

Welches persönliche Ziel möchten Sie erreichen?
Eine weiterhin steile Lernkurve und die Kraft, mit 80 Jahren noch immer mit dem Rennvelo ohne Elektroantrieb über Pässe zu fahren.

Was möchten Sie Ihren Nachkommen mit auf den Weg geben?
Einen möglichst breiten Horizont zu pflegen. Das hilft, differenziert zu denken. Und etwas vom Wichtigsten ist der gute Umgang mit der eigenen Gesundheit.

Was hat Sie das Jahr 2020 und die COVID-19-Pandemie gelehrt?
Für viele mag das nicht zutreffen, aber mir hat es gezeigt, dass wir auch auf vieles verzichten können. Es tut uns gut zu merken, was wir haben.