«Die Komfortzone zu
verlassen, gehört zum
Entwicklungsprozess dazu»

Text: Tabea von Ow | Bilder: Caran d’Ache und Aurelien Bergot | Magazin: Aus Mut gemacht – Oktober 2022

Sie steht an der Spitze des Schweizer Unternehmens Caran d’Ache: Carole Hübscher über Risikobereitschaft, Emotionen im Familienbetrieb und unsere Fehlerkultur, die sich ändern muss.

Frau Hübscher, können Sie sich an den ersten wichtigen Beschluss erinnern, den Sie für Caran d’Ache getroffen haben?

Ja. Ziemlich am Anfang habe ich entschieden, dass wir auf eine Einzelmarkenstrategie umstellen. Wir hatten für verschiedene Produktkategorien unterschiedliche Logos. Weil ich aus dem Marketing komme, war für mich klar, dass wir dadurch den Fokus verlieren.

«Business und Emotionen trennen – das ist in einem Familienbetrieb fast unmöglich.»

Welche Reaktionen löste dieser Entscheid aus?

Einige haben mich gewarnt, ich könne nicht für einen Sammler-Kugelschreiber, für den manche Leute mehrere tausend Franken bezahlen, dasselbe Logo verwenden wie für einen Farbstift. Aber ich war mir sicher, dass jeder, der schon in der Schule mit unseren Farbstiften oder Wasserfarben gemalt hatte, eine emotionale Bindung und ein grosses Vertrauen in die Marke Caran d’Ache entwickelt hatte. Diese Strategie war mit einem gewissen Risiko verbunden und die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen.

Caran d’Ache stellt Zeicheninstrumente und Schreibgeräte her. Der Name leitet sich vom russischen Wort für Bleistift «Karandasch» ab. 1915 in Genf als «Fabrique Genevoise de Crayons» gegründet, wurde das Unternehmen 1924 vom Unternehmer Arnold Schweitzer übernommen und auf den heutigen Namen Caran d’Ache umbenannt. Caran d’Ache beschäftigt in Thônex rund 300 Mitarbeitende und zieht Ende 2024 nach Bernex, wo die neue Manufaktur gebaut wird.

www.carandache.com

Und was hat Ihr Vater gesagt? Immerhin war er vor Ihnen jahrelang Verwaltungsratspräsident und hat die Mehrmarkenstrategie genutzt.

Er war anfangs nicht überzeugt und hat versucht, mich davon abzubringen. Aber schliesslich vertraute er mir. Er hatte mir die Schlüssel in die Hand gegeben und ich habe das Steuer übernommen.

Sich gegen den eigenen Vater durchzusetzen muss besonders schwer sein …

In einem Familienunternehmen muss man immer ein Gleichgewicht finden zwischen dem Geschäft und den emotionalen Bindungen, die die Familie und das Unternehmen verbinden. Das ist nicht immer einfach.

Sie stehen in vierter Generation an der Spitze des Familienunternehmens. War immer klar, dass Sie es einmal leiten würden?

Wer ein Familienunternehmen führt, wünscht sich natürlich, dass jemand aus der Familie nachfolgt. Aber viel wichtiger ist, dass diese Person auch die richtigen Kompetenzen mitbringt. Nachfolgeplanung braucht Zeit. Das war auch bei mir so. Ich habe meine Karriere damals bei Caran d’Ache begonnen und bin nun seit zehn Jahren Präsidentin. Aber in der Zwischenzeit habe ich viel anderes gemacht – studiert und bei anderen Unternehmen in der Schweiz und im Ausland gearbeitet –, um die nötige Erfahrung zu sammeln und damit meinen Platz an der Spitze von Caran d’Ache zu verdienen.

Hatten Sie je Zweifel, ob Sie dieser Aufgabe gewachsen sind?

Ärgerlicherweise haben wir Frauen die Tendenz, uns ständig selbst in Frage zu stellen. Aber ich hatte das Glück, dass ich starke Unterstützung hatte, zum Beispiel im Verwaltungsrat, mit dem ich mich aus­tauschen konnte. Das ist extrem wertvoll. Denn auf dieser Managementstufe fühlt man sich manchmal sehr allein, wenn man Entscheidungen treffen muss.

Warum, denken Sie, zweifeln denn Frauen oft an ihren Fähigkeiten?

Ich glaube, es hat mit dem Sozialverhalten in der Erziehung und in der Ausbildung zu tun. Mädchen werden oft angehalten, vorsichtiger zu sein. Jungs werden eher ermutigt, Risiken einzugehen. Das sieht man schon auf dem Spielplatz. Und das zieht sich auch später durch.

«Jede Entscheidung ist mit einem Risiko verbunden.»

Inwiefern?

Frauen, die etwas fordern, werden schnell als rechthaberisch wahrgenommen, während dasselbe Verhalten bei Männern als Leadership-Qualität ausgelegt wird. Zudem sind Frauen hierzulande und in Europa generell in einer Art «Perfektionismus-Falle» gefangen und dürfen keine Fehler machen, weil sonst gleich mit dem Finger auf sie gezeigt wird.

Was können wir tun, damit sich das ändert?

Wir müssen unsere Fehlerkultur ändern. Die Angelsachsen beispielsweise gehen mit Fehlern ganz anders um. Dort heisst es: «Ok, du hast einen Fehler gemacht, du bist gescheitert, aber du hast etwas daraus gelernt.» Das sollten Frauen auch hierzulande verinnerlichen: Die Komfortzone zu verlassen und aus den Fehlern zu lernen, ist Teil des Entwicklungsprozesses.

Carole Hübscher (55) ist Verwaltungsratspräsidentin und CEO von Caran d’Ache. 2012 hat sie das Präsidium von ihrem Vater Jacques Hübscher übernommen. Carole Hübscher verfügt über einen Abschluss der Harvard Business School und hat die Genfer Hotelfachschule absolviert. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Ihre Freizeit verbringt Carole Hübscher am liebsten mit ihrer Familie, zum Beispiel auf Städtetrips, wo sie sich von Kunst und Kultur inspirieren lässt.

Wie lässt sich diese Denkweise in unserer Kultur etablieren?

Ein Weg, um das zu erreichen, führt über die Bildung und die Erziehung. Wir müssen mutige Mädchen erziehen und sie vor allem ermutigen. Sie sollen das Recht haben, Fehler zu machen, solange sie daraus lernen. Ich versuche, das bei meinen Kindern so zu machen.

Wie gehen Sie vor beim Kalkulieren von Risiken?

Ich höre auf die Expert:innen, die mich umgeben. Natürlich muss ich am Ende entscheiden – und das ist immer mit einem Risiko verbunden. Aber ich beziehe mein Team mit ein und verlasse mich auch auf sein Urteil.

Wird das Entscheiden mit der Zeit einfacher?

Mit den Jahren habe ich viel Erfahrung gesammelt und dadurch fallen mir manche Entscheidungen heute leichter. Man bekommt ein besseres Verständnis für das Umfeld, in dem man tätig ist. Das macht es einfacher.

«Wir Frauen haben die Tendenz, uns ständig zu hinterfragen.»

Nicht einfach gewesen sein dürfte der Entscheid, Caran d’Ache von Thônex nach Bernex zu zügeln.

Nach 50 Jahren am gleichen Ort ist die Verbundenheit gross. Ich habe lange überlegt, ob wir den alten Standort ausbauen, um effizienter zu werden und die industriellen Abläufe zu verbessern. Doch mit den Herausforderungen der Zukunft vor Augen – gerade im Bereich Energie – wurde mir klar: Wir brauchen eine moderne Fabrik, mit neuen und leistungsfähigen Technologien. Das ist eine grosse Chance für uns.

Stand auch eine Produktionsverlagerung ins Ausland zur Debatte?

Bei meinen Vorgänger:innen war das vielleicht der Fall, nicht aber in der aktuellen Generation. Es ist eine echte Herausforderung, in der Schweiz zu produzieren, wo die Kosten am höchsten sind. Aber wir produzieren seit über 100 Jahren hier. Das Bekenntnis zum Wirtschaftsstandort Schweiz war bereits eine klare strategische Entscheidung, bevor ich ins Unternehmen eingestiegen bin. Es geht um Qualität, Stabilität und auch um hochqualifiziertes Personal.

Womit kann die Schweiz aus Ihrer Sicht denn punkten?

Unser Ausbildungssystem ist sehr gut. Hier finden wir kreative Mitarbeitende, die die Innovation unserer Produkte vorantreiben und das nötige Know-how mitbringen. Denn viele Prozesse bei uns sind noch immer sehr handwerklich, zum Beispiel die Herstellung der Minen für unsere Farbstifte. Das ist fast wie Kochen: Es braucht viel Erfahrung, bis man weiss, wo man noch die sprichwörtliche Prise Salz hinzufügen muss, damit es perfekt wird. Das ist ein Know-how, das man nur bei uns erlernen kann. Die Stabilität der Schweiz ist ebenfalls ein grosser Vorteil.

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Handwerkliche Perfektion ist und bleibt also ein zentraler Faktor für Caran d’Ache. Gleichzeitig wird die Welt immer digitaler. Wie begegnen Sie dieser Entwicklung?

Unser neuer Produktionsstandort ist ein wichtiger Schritt, um auf dem modernsten Stand zu sein. Die Digitalisierung des Geschäfts hat aber bereits vor Jahren begonnen, sowohl in der internen Organisation als auch extern mit unseren Online-Shops und über unsere sozialen Netzwerke.

Das dürfte Ihnen während der Pandemie geholfen haben?

Auf jeden Fall! Während der Pandemie waren Malutensilien sehr gefragt. Viele Eltern, die ihre Kinder zuhause in Quarantäne beschäftigen mussten, haben bei uns bestellt. Aber auch die Erwachsenen waren zuhause und nutzten die Zeit, sich kreativ auszuleben. Am Anfang der Pandemie haben wir zudem unser Angebot an Online-Kunst-Tutorials ausgebaut. Solche Kurse waren während der Pandemie sehr beliebt. Viele haben auch eine neue Leidenschaft für das Malen und Zeichnen entwickelt.

Und wie sieht es aktuell aus?

Die Verkaufszahlen sind höher als vor der Pandemie. Die Kund:innen kommen wieder in die Shops und geniessen es, die Schreibwaren und Malutensilien auszuprobieren.

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Beim Begriff «Mut» denke ich als Erstes an …
Energie und neue Gelegenheit.

Mut hat für mich die Farbe …
Schwarz.

Meine Mut-Vorbilder sind …
generell Unternehmer:innen.

Dieses Tier verkörpert meinen persönlichen Mut am besten …
eine Gepardenmutter.

Wer mutig entscheiden will, muss …
aus der Komfortzone ausbrechen und Risiken abwägen.