«In der Schweiz hatten
Frauen weniger
Gelegenheit, Mut zu zeigen»

Text: Franziska Pfister | Bilder: www.foto-shooting.ch | Magazin: Aus Mut gemacht – Oktober 2022

Ellen Ringier wurde streng erzogen. Wie sie bis heute davon profitiert und warum sie sich mit ihrem Magazin «Fritz+Fränzi» in der Elternberatung engagiert.

Frau Ringier, was war das Mutigste, das Sie in Ihrem Leben gewagt haben?

Als junge Frau bin ich überhängende Bergwände hochgeklettert und Abfahrtsrennen mit Bernhard Russi gefahren, er war damals schon der Beste und ich fuhr in die Schlussränge! Auf den Ski den Gemsstock in Andermatt herunterzufahren, ohne einen Bogen zu ziehen. Das würde ich mich heute nicht mehr trauen.

«30 Jahre Gratisarbeit zu leisten, das macht niemand, der frei ist von einem Helfersyndrom.»

Haben Sie damals über eine Karriere als Sportlerin nachgedacht?

Nein, obwohl die Idee mehrfach an mich herangetragen wurde. Im Frauensport standen damals viele Disziplinen am Anfang der Entwicklung. In meiner Familie gab es fast nur Sport, meine Mutter brachte aus England noch Golf in die Familie. Sie hat sich auf der Skipiste in einen gutaussehenden Schweizer Offizier, der dann mein Vater wurde, verliebt. Mein Vater führte ein Regiment im Tessin, auf sein Betreiben hin sind wir an unzähligen Sonntagen um 5 Uhr morgens aufgestanden und zum Rekognoszieren ins Tessin gefahren.

Sie sind in einem konservativen, katholischen Milieu in der Innerschweiz mit zwei Schwestern aufgewachsen. Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen die gleichen Möglichkeiten offenstanden wie einem Bruder, den Sie nicht hatten?

Ja. Meine Mutter war eine starke Persönlichkeit, sie stammte aus einer Londoner Bankiersfamilie. Ihre Schule wurde während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg nach Schottland verlegt, in ein altes Schloss
ohne Heizung. Das hat sie abgehärtet. Sie liebte es, draussen zu sein, auch bei Regen und Kälte. Und so hat sie auch uns Kinder erzogen. Dadurch habe ich Resilienz entwickelt, die mir später zugutekam.

«Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi» wurde vor 21 Jahren gegründet und hat 225’000 Leserinnen und Leser. Das Magazin erhielt zwei Mal den «Q-Award» für das beste Schweizer Fachmagazin. Herausgegeben von der gemeinnützigen Stiftung Elternsein erscheint es zehn Mal pro Jahr, begleitet von vier Ausgaben für Kindergarten-Eltern u. v. m. Redaktion und Verlag befinden sich in Zürich, Ellen Ringier ist die Präsidentin des Stiftungsrats.

www.fritzundfraenzi.ch

Resilienz im Sinn von Beharrlichkeit?

Eher in dem Sinne, dass ich gelernt habe, eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Mein Vater dachte wohl, wenn er seine älteste Tochter lange genug behandelt wie einen Buben, verwandelt sie sich eines Tages
in einen. Ich habe keine Schonung erfahren und bin streng erzogen worden.

Also gab es auch Verbote?

Meine Mutter hatte mehr Selbstvertrauen als die meisten Schweizer Frauen in jener Zeit. Als sie mit 25 Jahren in die Schweiz kam, hatte sie ein Studium abgeschlossen und ein Jahr an der Wall Street in einer Bank gearbeitet. Uns Mädchen hat sie ermuntert, für unsere Ziele einzustehen. Wäre es nach meinem Vater gegangen, hätte ich die Prüfung fürs Gymnasium nicht ablegen dürfen. An die weniger wichtigen, alltäg-lichen Verbote hat man sich damals als Kind gehalten …

Weshalb war er dagegen?

Er war ein Sechser-Schüler und fand, das Gymnasium sollte intelligenteren oder zumindest fleissigeren Kindern als mir vorbehalten sein. Meine Grossmutter aus England hat ihn dann überredet, mich die Prüfung schreiben zu lassen. Zeitlebens hat sich mein Vater damit schwergetan, dass jemand wie ich, die so wenig Lerneifer zeigte, die Matur geschafft und das Jus-Studium abgeschlossen hat. Meine Dissertation hat er lächelnd entgegengenommen und auf einen Stapel auf seinem Schreibtisch gelegt. Nach seinem Tod habe ich sie, ungelesen, ziemlich weit unten im Stapel entdeckt.

Brauchte es Mut, sich gegen den Vater durchzusetzen?

Am Anfang schon. Dem Vater zu widersprechen war damals nicht üblich. Ich hätte gern Medizin studiert, aber er hat sich geweigert, mir das Studium zu finanzieren. Seiner Meinung nach wäre ich bei der ersten Zwischenprüfung durchgefallen. Statt meinen Plan zu verteidigen, habe ich nur schüchtern gefragt: Hast du eine bessere Idee? Da schlug er Jura vor. Dem kam ich nach und habe es nie bereut. Und trotz allem habe ich meinen Vater nicht nur für sein Pflichtbewusstsein bewundert, sondern wegen seiner warmherzigen und engagierten Art geliebt.

Damals waren Mädchen im Gymnasium und an Universitäten in der Minderheit. Wie stehen Sie zu einer Männerquote im Medizinstudium?

Ich bin dagegen, Frauen zurückzubinden. Wenn es mehr Ärztinnen gibt als Ärzte, dann haben sie sich am Markt durchgesetzt. Es gibt ja Gründe, weshalb sich Kranke bei Medizinerinnen oft besser aufgehoben fühlen (oder Bankkunden Anlageberaterinnen vorziehen). Frauen werden als empathischer wahrgenommen. Eine Männerquote wäre ein Witz!

Sie sind Unternehmerin, haben eine Stiftung für Eltern gegründet, geben ein Magazin für Eltern heraus. War das Unternehmertum der Weg, den Sie schon immer einschlagen wollten?

Überhaupt nicht, meine Karriere war sogar jahrelang blockiert. Am Tag nach der Hochzeitsreise fand ich mich in Hamburg wieder, ohne die Chance auf eine Arbeitsbewilligung für Deutschland. Erst einige Jahre später bekam ich dank meiner Muttersprache Englisch eine Stelle in einer Versicherung. Ich war gern eine Angestellte und Kollegin und hatte nie das Bedürfnis, alles besser zu wissen und selber gestalten zu müssen.

Dr. iur. Ellen Ringier (70) wuchs in Luzern auf, der Vater war Kaufmann und Kunstsammler, ihre Mutter stammte aus einer britischen Bankiersfamilie. Nach der Matura studierte sie Rechtswissenschaften an der Universität Zürich und promovierte. Nach diversen Tätigkeiten am Gericht, in Kanzleien und im grössten deutschen Haftpflichtversicherungskonzern engagierte sie sich vor 30 Jahren voll- und ehrenamtlich für verschiedene kulturelle und soziale Organisationen. 2001 hat sie die Stiftung Elternsein gegründet. Sie ist verheiratet mit dem Verleger Michael Ringier und hat zwei Kinder.

Zurück in der Schweiz haben Sie in der Advokatur gearbeitet.

Ja, aber mit dem Namen Ringier war das manchmal schwierig. Ich habe mich immer exponiert gefühlt, die Mandanten waren verunsichert: Bleibt das jetzt in der Kanzlei oder steht alles morgen im «Blick»? Mit 40 Jahren habe ich meinen persönlichen Reset-Knopf gefunden und auf den Trust zugegriffen, den mein Grossvater in England für mich eingerichtet hat, damit ich nicht von einem Mann finanziell abhängig sein würde. Von diesem Geld nahm ich die ersten 2,5 Millionen Franken für mein Magazin.

Sie sprechen vom Elternratgeber «Fritz+Fränzi». War das komplett Ihr Projekt?

Ja, und es ist mein Stolz, weder von meinem Mann oder aus der Firma Ringier Unterstützung erbeten zu haben. Mein Mann war sogar dagegen, dass ich ein Magazin gründe. «Mit Zeitschriften Geld verlieren, das kann ich besser als du», hat er in seiner typisch ironischen Manier gesagt.

Das Heft wurde ein Erfolg, die Auflage steigt stetig. Wie lange wird es sich noch rechnen, Zeitschriften auf Papier herauszubringen?

Das wüssten alle Verleger:innen gerne! Wir konzentrieren uns auf anspruchsvolle Beiträge zu Erziehungsfragen. Rezepte, Kreuzworträtsel, Bastelanleitungen oder Schönheitstipps und dergleichen lassen wir weg. Oder anders gesagt: Unsere Magazine zu lesen ist anspruchsvoll, man nimmt sie meist mehrmals und immer wieder zur Hand. Dennoch gewinnen auch bei uns die digitalen Beiträge, die sich schlecht finan-zieren lassen, zusehends an Bedeutung.

Sie gelten in der Schweiz als Mäzenin, hatten Sie je das Gefühl, trotz erfolgreicher eigener Projekte im Schatten Ihres Ehemannes zu stehen?             

In unserer Ehe macht jeder «sein Ding». Mein Mann unterstützt Institutionen und Menschen in der Welt, in der er sich am besten auskennt, in der Kunst. Mir war von Anfang an klar, dass ich mein Projekt selbst finanzieren muss. Den Businessplan für «Fritz+Fränzi» habe ich daher dem früheren «Blick»-Chefredaktor Fridolin Luchsinger gezeigt. Er hat sich das angeschaut und gesagt: Wenn du das machst, verlierst du jedes Jahr drei Millionen Franken. Darauf habe ich mich eingestellt. Ich hatte eine begrenzte Zahl von Jahren Zeit, Geldgebende zu finden, sonst hätte ich das Heft wohl über kurz oder lang einstellen müssen.

Aber das hat geklappt?

Ja, nach viel Arbeit. Meine Mitstreiter:innen und ich haben uns selbst ausgebeutet, wie alle Jungunternehmer:innen. In der ersten Zeit haben wir Tag und Nacht gearbeitet, der Ehemann einer Kollegin war Fotograf, der hat gratis Bilder gemacht, sogar von unseren eigenen Kindern. Aber ich habe mir immer ein umtriebiges Leben gewünscht, nur Golf zu spielen oder Wellness hätte mich niemals erfüllt.

Woher nahmen Sie die Motivation?

30 Jahre Gratisarbeit zu leisten, das macht niemand, der frei ist von einem Helfersyndrom. Spass beiseite: Ich bin dankbar für das Glück, das ich in meinem Leben hatte, und wollte der Gesellschaft etwas zurückgeben. Geld zu verdienen und im Vordergrund zu stehen war nie mein Lebensziel. Ich habe immer nach Sinnstiftung gesucht, wollte anderen helfen.

«Ich bin glücklich, wie es gekommen ist.»

Mut ist ja ein männlich konnotiertes Attribut. Wird der Mut von Frauen übersehen, weil die Gesellschaft einen anderen Blick auf sie und andere Erwartungen an sie hat?

Ich denke, ja. In der Schweiz hatten Frauen auch weniger Gelegenheit, Mut zu zeigen. Im Zweiten Weltkrieg waren in unseren Nachbarländern die Männer alle an der Front. Viele sind nicht zurückgekehrt, die Frauen mussten einspringen und sie haben das Heft nicht mehr aus der Hand gegeben.

Was bedeutet Mut heute für Sie?

Dass man bereit ist, hinzunehmen, von einem Teil der Gesellschaft kritisch angeschaut zu werden. In konservativen Kreisen bin ich alles andere als beliebt, ich störe das Bild der Unternehmergattin. Dass ich immer wieder sozialkritische Aussagen mache, trug mir die Zuschreibung «Kryptokommunistin» ein. Ich setze mich für Randgruppen ein, möchte der Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken. Die Schweiz braucht einen breiten Pool an Leuten in der politischen Mitte, die sich mit dem Staat identifizieren und etwas für die Gesellschaft und nicht nur für sich selbst bewegen wollen.

Wenn Sie mit dem Wissen von heute noch mal eine Berufswahl treffen müssten: Wie sähe die aus?

Ich bin glücklich, wie es gekommen ist. Mit den gleichen Voraussetzungen würde ich erneut Jura studieren. Rückblickend hätte ich länger als Juristin arbeiten wollen, eine Stelle bei der Kinderanwaltschaft hätte mich gereizt.

In welcher Hinsicht sollten junge Menschen mutig sein, die noch ganz am Anfang der beruflichen Laufbahn stehen?

Nach meiner Erfahrung sind viele Studierende vor allem an Jobs interessiert, die gut bezahlt werden. Ich rate dazu, sich nicht um Konventionen zu scheren und ein Studienfach zu wählen, das einem ermöglicht, sich voll und ganz einzubringen. Sich selbst im Beruf kennenzulernen, sich mehr und mehr einbringen zu können, macht die grösste Freude und ist erfüllend. Ausserdem ist es heute möglich, mit 30 oder 40 Jahren beruflich noch einmal etwas Neues anzupacken.

Ellen Ringier – Ganz persönlich

Beim Begriff «Mut» denke ich als Erstes an …
Zivilcourage.

Mut hat für mich die Farbe …
Rot.

Mein Mut-Vorbild ist …
Nelson Mandela.

Dieses Tier verkörpert meinen persönlichen Mut am besten …
ein Elefant.

Wer mutig entscheiden will, muss …
über einen festen Wertekodex verfügen.