Noch stellt das menschliche Gehirn eines der grössten Geheimnisse der Menschheit dar. Von aussen eine unspektakuläre graubeige, weiche Masse, bei einem Erwachsenen im Schnitt gut 1,5 Kilogramm schwer. Doch was sich darin abspielt, ist faszinierend: über 100 Milliarden Nervenzellen kommunizieren ständig miteinander, bilden Netzwerke und synaptische Verbindungen, verändern sie wieder, wenn eine andere Funktion gefragt ist – und dies alles in wenigen Millisekunden. Das Organ steuert sämtliche Körperfunktionen, in ihm entstehen Gedanken und Gefühle, das menschliche Bewusstsein. «Das Gehirn ist ein dynamisches Netzwerk von Netzwerken, das auf und zwischen mehreren Ebenen gleichzeitig arbeitet», erklärt Henry Markram. Er ist Professor für Neurowissenschaft an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL), Direktor des Laboratoriums für neurale Mikrotechnik (LNMC) sowie Gründer und Direktor des Blue-Brain-Projekts.
«Ich will, dass wir das Gehirn verstehen – und zwar noch zu meiner Lebzeit.»
Das 2005 im Brain-Mind-Institut der EPFL lancierte Projekt hat zum Ziel, genaue, biologisch detaillierte digitale Rekonstruktionen und Simulationen des Gehirns von Nagetieren zu erstellen und dies letztlich auch für menschliche Gehirne zu erschaffen. Um dies zu erreichen, verfolgt der 55-jährige Hirnforscher einen ganz eigenen Ansatz. «Es braucht eine neue Strategie, denn allein mit Experimenten werden wir das Gehirn nie verstehen», ist er überzeugt. Man könne gar nicht genügend Versuche durchführen angesichts der unkalkulierbaren Zahl an Reaktionen, die im Gehirn ablaufen. Hinzu kommt, dass die Wissenschaftler, ausser im Falle einer Operation, keinen Einblick in ein funktionierendes Gehirn erhalten. Daher weiss man auch nach jahrzehntelanger Forschung erst sehr wenig über das komplexe Denkorgan.
Ein Puzzle mit einer Billion Teilen
Der gebürtige Südafrikaner Markram setzt deshalb auf Simulationen – eine Strategie, die auch in anderen Wissenschaftszweigen erfolgreich angewendet wird. Mithilfe eines Superrechners entwickeln er und sein Team von Wissenschaftlern, Software-Ingenieuren und -Entwicklern, Technikern und Forschern ein Verfahren zur Assimilierung aller Daten und des vorhandenen Wissens über das Gehirn. Damit bauen sie ein Computermodell, mit dem sich die Funktionen des Denkapparats simulieren lassen. In einer ersten Phase konzentrierten sich die Forscher auf eine nur wenige Millimeter hohe, verzweigte Struktur aus Tausenden von Nervenzellen: eine neokortikale Säule aus der Hirnrinde einer Ratte. Aus diesen Kleinsteinheiten des Tierhirns soll am Ende das gesamte Organ und später auch das Gehirn des Menschen modelliert werden.
Dabei nutzen die Forscher bereits publizierte wissenschaftliche Daten und Fakten über das Gehirn und integrieren diese im Modell. Daraus leiten sie Regeln ab und berechnen so den Aufbau des Denkapparats sowie die möglichen Reaktionen der einzelnen Zellen. Markram vergleicht dies mit einem Puzzle, das aus einer Billion Teilen besteht, von dem man aber nur gut 1000 kenne. «Normalerweise kann man so ein Puzzle gar nicht zusammensetzen. Wenn man aber die Regeln und Abhängigkeiten zwischen den Teilen herausfinden kann, dann lässt sich selbst dieses gigantische Puzzle lösen.»