Das virtuelle Gehirn

Wie kommt man den Geheimnissen unseres Denkapparats auf die Spur und verbessert so die Behandlung von Hirnkrankheiten? Genau daran arbeitet der Neurologe Professor Henry Markram im Rahmen seines Blue-Brain-Projekts seit über zehn Jahren. Und ist überzeugt, dass dies mit Experimenten und Theorien allein nicht gelingen wird

Text: Redaktion ceo Magazin | Bilder: Alain Herzog / EPFL; Blue Brain Project / EPFL. All rights reserve | Magazin: Life & Science – Juli 2017

Noch stellt das menschliche Gehirn eines der grössten Geheimnisse der Menschheit dar. Von aussen eine unspektakuläre grau­beige, weiche Masse, bei einem Erwach­senen im Schnitt gut 1,5 Kilogramm schwer. Doch was sich darin abspielt, ist faszi­nierend: über 100 Milliarden Nerven­zellen kommunizieren ständig miteinander, bilden Netzwerke und synaptische Ver­bin­dungen, verändern sie wieder, wenn eine andere Funktion gefragt ist – und dies alles in wenigen Millisekunden. Das Organ steuert sämtliche Körperfunktionen, in ihm ent­stehen Gedanken und Gefühle, das mensch­liche Bewusstsein. «Das Gehirn ist ein dynamisches Netzwerk von Netzwerken, das auf und zwischen mehreren Ebenen gleich­zeitig arbeitet», erklärt Henry Markram. Er ist Professor für Neurowissenschaft an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL), Direktor des Laboratoriums für neurale Mikrotechnik (LNMC) sowie Gründer und Direktor des Blue-Brain-Projekts.

«Ich will, dass wir das Gehirn verstehen – und zwar noch zu meiner Lebzeit.»

Das 2005 im Brain-Mind-Institut der EPFL lancierte Projekt hat zum Ziel, genaue, biologisch detaillierte digitale Rekons­truktionen und Simulationen des Gehirns von Nagetieren zu erstellen und dies letztlich auch für menschliche Gehirne zu erschaffen. Um dies zu erreichen, verfolgt der 55-jährige Hirnforscher einen ganz eigenen Ansatz. «Es braucht eine neue Strategie, denn allein mit Experimenten werden wir das Gehirn nie verstehen», ist er überzeugt. Man könne gar nicht genügend Versuche durchführen angesichts der unkalkulierbaren Zahl an Reaktionen, die im Gehirn ablaufen. Hinzu kommt, dass die Wissenschaftler, ausser im Falle einer Operation, keinen Einblick in ein funktionierendes Gehirn erhalten. Daher weiss man auch nach jahrzehntelanger Forschung erst sehr wenig über das komplexe Denkorgan.

Ein Puzzle mit einer Billion Teilen

Der gebürtige Südafrikaner Markram setzt deshalb auf Simulationen – eine Strategie, die auch in anderen Wissenschaftszweigen erfolgreich angewendet wird. Mithilfe eines Superrechners entwickeln er und sein Team von Wissenschaftlern, Software-Ingenieuren und -Entwicklern, Technikern und Forschern ein Verfahren zur Assi­milierung aller Daten und des vorhandenen Wissens über das Gehirn. Damit bauen sie ein Computermodell, mit dem sich die Funktionen des Denkapparats simulieren lassen. In einer ersten Phase konzentrierten sich die Forscher auf eine nur wenige Millimeter hohe, verzweigte Struktur aus Tausenden von Nervenzellen: eine neokor­tikale Säule aus der Hirnrinde einer Ratte. Aus diesen Kleinsteinheiten des Tierhirns soll am Ende das gesamte Organ und später auch das Gehirn des Menschen modelliert werden.

Dabei nutzen die Forscher bereits publizierte wissenschaftliche Daten und Fakten über das Gehirn und integrieren diese im Modell. Daraus leiten sie Regeln ab und berechnen so den Aufbau des Denkapparats sowie die möglichen Reaktionen der einzelnen Zellen. Markram vergleicht dies mit einem Puzzle, das aus einer Billion Teilen besteht, von dem man aber nur gut 1000 kenne. «Normalerweise kann man so ein Puzzle gar nicht zusammensetzen. Wenn man aber die Regeln und Abhängigkeiten zwischen den Teilen herausfinden kann, dann lässt sich selbst dieses gigantische Puzzle lösen.»

Henry Markram (55) ist Gründer des Brain-Mind-Instituts, des Blue-Brain-Projekts und des Human-Brain-Projekts der EU, welche alle ihr Hauptquartier bei der EPFL haben. Der gebürtige Südafrikaner studierte Medizin und Neurophysiologie in Kapstadt. Anschliessend emigrierte er nach Israel und erlangte sein Doktorat am Weizmann-Institut. Seine postdoktorale Arbeit verfasste Markram am National Institute for Health in den USA sowie am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg. Der Hirnforscher ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Mit seiner Ehefrau ist er zudem in der Autismusforschung tätig und Mitgründer von Frontiers – eines der mittlerweile grössten Open-Access-Verlagshäuser für wissenschaftliche Publikationen.

Misserfolg führt zu Erkenntnis

Anhand von Resultaten aus bereits getätigten Experimenten prüfen Markram und sein Team die so abgeleiteten Regeln auf ihre Richtigkeit hin. Rund 100’000 wissen­schaftliche Publikationen, die weltweit jähr­lich veröffentlicht werden, ziehen sie dafür hinzu. Halten die abgeleiteten Regeln diesem Test stand, ist es für die Wissen­schaftler eine Bestätigung, dass die zugrunde liegenden Annahmen zutreffen. Allerdings ist auch ein negativer Ausgang für sie interessant. «Wenn etwas nicht wie erwartet funktioniert, dann bewegen wir uns entlang der Grenzen unseres Wissens», sagt Markram. «Bei einem Misserfolg können wir unsere Annahmen systematisch überprüfen. Wir lernen, wenn wir scheitern.»

«Allein mit Experimenten werden wir das Gehirn nie verstehen.»

Annähernd 100 verschiedene Publikationen veröffentlichte das Blue-Brain-Projekt in den vergangenen zehn Jahren. Einen Höhe­punkt dieses Schaffens stellte ein erster Entwurf einer Rekonstruktion neokortikaler Mikrotechnik dar. Bei der Rekonstruktion handelt es sich um eine detaillierte Kopie eines kleinen Teils des Neokortex einer Ratte. Dieser Teil ist der am weitesten ent­wickelte Bereich des Gehirns: Er misst etwa 1/3 Kubikmillimeter und hat 31’000 Hirnzellen, die über 40 Millionen Ver­bindungen miteinander verbunden sind. Inzwischen arbeiten die Forscher allerdings bereits an grösseren Hirnregionen. Ende des laufenden Jahres soll die nächste digitale Rekonstruktion erfolgen: der für Berüh­rungen zuständige Bereich des Gehirns. Und bis im Jahr 2023 hat das Team das Gehirn der Maus mit rund 600 Gehirnregionen im Visier. Doch damit nicht genug: Parallel dazu baut es bereits an einem kleinen Teil des menschlichen Neokortex.

Im Vordergrund steht das Wissen

Genau dies war die Vision, als Henry Markram das Blue-Brain-Projekt 2005 ins Leben rief. «Ich will, dass wir das Gehirn verstehen – und zwar noch zu meiner Lebzeit und nicht erst in jener meiner Grosskinder», sagt er. Herauszufinden, wie das Hirn das eigene Empfinden und jenes gegenüber der Umwelt prägt, treibt ihn an. Hinzu kommt eine persönliche Betroffenheit, ist er doch Vater eines autistischen Sohnes. «Selbst als Neurologe fühle ich mich machtlos», sagt er. Zumal bei der Heilung von Hirnkrank­heiten heute noch sehr viel vom Glück abhängt. «Es wird viel ausprobiert. Wenn etwas wirkt, dann entsteht daraus ein Milliarden-Unternehmen, ansonsten fängt man wieder bei null an.» Das Computermodell des Gehirns soll hierzu Grundlagen liefern und die Versuche verbessern. So könnte das Blue-Brain-Projekt beispielsweise dabei helfen, besonders verletzliche Orte im Gehirn auszumachen und die strategisch wichtigs­ten Areale zu lokalisieren. «Wer Hirnkrank­heiten behandeln will, muss wissen, wie das Gehirn funktioniert», sagt der Projektleiter. In Zukunft erhofft sich Markram, dass dank Simulationen am Computermodell die bisher bekannten 600 Hirnkrankheiten eingedämmt werden können.

Das Ziel des Blue-Brain-Projekts besteht darin, genaue, biologisch detaillierte digitale Rekonstruk­tionen und Simulationen des Gehirns von Nagetieren zu erstellen und dies letztlich auch für menschliche Gehirne zu erreichen. Die im Supercomputer errechneten Rekonstruktionen und Simulationen von Blue Brain bieten der Wissenschaft einen neuartigen Ansatz zum Verständnis der Mehrebenenstruktur und der Funktionen des Gehirns.

www.bluebrain.ch

Künstliche Intelligenz profitiert

Die Berechnungen für das Modell führt der Supercomputer Blue Brain IV IBM BG/Q durch. Bereits steht die nächste Generation vor der Tür, die noch mehr Rechenleistung bringt. Dass solche Supercomputer dereinst selber zu denken beginnen, gehört laut Markram ins Reich der Science Fiction – zumindest für die nächsten 100 Jahre. Vereinfachte Erkenntnisse aus dem Projekt könnten dagegen schon früher Einzug in den Alltag halten und den Forschungs­bereich der künstlichen Intelligenz massgeblich beeinflussen. «Das Gehirn arbeitet viel effizienter, schneller und weniger datenintensiv als die heutigen Computernetzwerke», so Markram. In den kommenden Jahren soll es aus dem Projekt zu mehreren Spin-offs im Bereich der künst­lichen Intelligenz kommen.

Dass das ambitiöse Projekt hierzulande angesiedelt ist, führt Markram auf die guten Rahmenbedingungen zurück, die ihm hier geboten werden. Besonders das Bekenntnis zum Blue-Brain-Projekt und dessen Vision durch den ETH-Rat und selbst vonseiten des Bundesrats, war eine Voraussetzung, um diese langfristige Forschung in der Schweiz zu starten. «Unser Team ist sehr inter­disziplinär. Die Leute müssen sich viel Wissen in einem für sie teilweise fremden Fach­gebiet aneignen, um das ganze Modell zu verstehen», erklärt Markram. Für die Schweiz soll sich ihr Engagement lohnen. «Dank ihrer Führungsrolle im Projekt wird sie in einer Schlüsselposition sein, wenn es darum geht, neue Behandlungen für das Gehirn zu entwickeln», sagt Markram. Eine positive Wirkung erhofft er sich auch für die Informatik und die Kommunikations­technologien.

Bis dahin dürfte nicht mehr allzu viel Zeit vergehen, ist zumindest der Hirnforscher überzeugt. Die Probleme, die es zu bewäl­tigen gäbe, seien klar definiert: «Wenn unsere Finanzierungsperiode 2023 zu Ende geht, werden wir sicherlich eine detaillierte Simulation eines Mäusehirns präsentieren können und eventuell auch ein Modell des menschlichen Gehirns in geringerer Auflösung», so Markram. Auf dem Weg dorthin dürften er und sein Team sicher noch sehr viele erstaunliche Dinge über das Hirn entdecken.

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Bild: Blue Brain Project / EPFL © 2005 – 2017. All rights reserved

Hier wird die Komplexität des Gehirns dargestellt. Das Bild zeigt drei Hauptkomponenten, die innerhalb des Neokortex (der am stärksten entwickelte Teil eines Säugetiergehirns) miteinander interagieren: Blutgefässe, Astrozyten (Sternzellen) und Neuronen.
Bild: Blue Brain Project / EPFL © 2005 – 2017. All rights reserved

Ein Blick aus dem Inneren des Neokortex auf das hochorganisierte neuronale Netzwerk.