Der Rucksack ist mein Büro,
alles andere ist in der Cloud

Text: Simon Eppenberger | Bilder: Markus Bertschi, Siemens | Magazin: Work in progress – November 2020

Siemens Schweiz hat bei der Führung einen Kulturwandel vollzogen, der alle 5700 Mitarbeitenden einschliesst. CFO Jörn Harde, dem auch Themen wie neue Führung, Diversität und Inklusion, die Entwicklung der Arbeitsplätze sowie das «New Normal» wichtig sind, sagt, wie sich das im Ausnahmezustand bewährt und wie er die künftige Arbeitswelt mitgestaltet.

Wer zum ersten Mal in das Büro von Jörn Harde blickt, ist überrascht. Aus einem schlichten Raum in Zürich steuert der CFO von Siemens Schweiz die Finanzen des Unternehmens – und verzichtet auf jegliches Papier. Kein Ordner ist zu sehen, keine Dokumente, nicht mal ein Notizblock liegt auf seinem Schreibtisch. Nur am Flipchart neben dem Sitzungstisch hängen einige leere Seiten. Der 44-Jährige kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er sagt: «Der Rucksack ist mein Büro, alles andere ist in der Cloud.» Das handhabt er seit rund 15 Jahren so – und passt damit bestens zu Siemens.

Der Grosskonzern ist nicht nur in Bereichen wie Energie, Gebäudetechnik, Industrie, Gesundheit und Mobilität stark, sondern verfolgt nach Innen wie Aussen eine konsequente Digitalstrategie. Dazu zählt die Sparte «Smart Infrastructure». Die intelligenten Gebäude bedienen gleich­zeitig die Bedürfnisse der Immobilienbesitzer, Betreiber, Mieter und Nutzer. Dabei lässt sich die Technologie von Siemens auch in bestehenden Gebäuden anwenden, etwa am Sitz in Zürich, der vor mehreren Jahrzehnten gebaut wurde.

Dort wird durch intelligentes Gebäudemanagement der Energieverbrauch massiv gesenkt und den Mitarbeitenden steht überall ein schnelles, gesichertes WLAN-Netz zur Verfügung. Es verbindet nicht nur alle Siemens-Standorte und deren Belegschaft miteinander, sondern ermöglicht mit Chipkarte und Authentifizierung auch den raschen Zugriff auf vertrauliche interne Daten. Das System ist so stabil und sicher, dass der CFO 98 Prozent seiner Unterschriften digital abgibt. «Die restlichen zwei Prozent sind Verträge, die aus rechtlichen Gründen auf Papier stehen müssen», sagt er.

Virtuelle Abnahme einer Lokomotive

Während Jörn Harde bei Siemens seit Langem ein Vorreiter der papierfreien Arbeitsweise ist, hat COVID-19 der Digita­lisierung intern wie auf Seiten der Kunden einen enormen Schub gebracht. Sogar eine ganze Flotte von Lokomotiven wurde mittels einer Kamerabrille und über Livestream abgenommen, ohne dass die Verantwortlichen vor Ort erscheinen mussten. «Wir haben in fünf Wochen so viel verändert wie sonst in fünf Jahren», sagt Harde und strahlt.

«Wir haben in fünf Wochen so viel verändert wie sonst in fünf Jahren.»

Bei Siemens Schweiz hat Harde auch Themen wie die neue Führung, Diversität und Inklusion sowie die Entwicklung der Arbeitsplätze und das «New Normal» im Auge. Letzteres steht für die umfassende Veränderung durch COVID-19. Die Wirkung der Pandemie ist so stark, dass Menschen und Unternehmen auch nach dem Abklingen der Krise nicht zurück ins alte Fahrwasser gelangen. Vielmehr entsteht eine neue Arbeitswelt, die künftig zur Normalität wird.

Jörn Harde (44) ist in Schwelm, in der Nähe von Wuppertal in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen und absolvierte bei Siemens die kaufmännische Lehre für Abiturienten. Seither ist er dem Unternehmen treu geblieben. Er arbeitete im Bereich Finanzen und Controlling und schloss daneben das Studium an der Fernuniversität Hagen ab. Er übernahm diverse operative Führungspositionen, u.a. war er für die Integration von Nokia Networks in die Siemens Networks zuständig, später entwickelte er Off-shore-Windfarmen in England. Nach viereinhalb Jahren als Leiter des Vorstandsbüros von Siemens CEO Joe Kaeser wurde er 2018 CFO von Siemens Schweiz. Er ist verheiratet und lebt in Oberengstringen. In der Freizeit spielt Jörn Harde Schach, reist gerne nach Griechenland, der Heimat seiner Frau, geht wandern und im Winter Ski fahren.

Dass ausgerechnet der CFO neben den Finanzen diverse Themen abseits der nackten Zahlen weiterbringen soll, erscheint bei Jörn Harde durchaus sinnvoll. «Es ist eine Herzensangelegenheit», sagt er. Denn vor seiner aktuellen Position war er über vier Jahre Leiter des Büros von Siemens CEO Joe Kaeser und war damit mitver­antwortlich für die Gestaltung der weltweiten Unternehmensstrategie und die kulturelle Transformation.

Vertrauen statt Kontrolle

Inzwischen ist die zentrale Führung schlanker aufgestellt und in der Gruppe gibt es eigenständige Geschäfte, die mehr unternehmerische Freiheiten haben. «Diese Strategie wird unterstützt durch einen Kulturwandel hin zu einer Ownership Culture. Unser Verständnis von agiler, produktiver Führung funktioniert nicht über Kontrolle, sondern Vertrauen und Eigenverantwortung», sagt Harde. Er sieht sich selbst auch nicht als Manager, sondern viel eher als Coach und Leitfigur, welche(r) das Ziel und den Rahmen vorgibt, ohne jeden Schritt zu überwachen. Ein wichtiger Teil dieser Transformation ist für Harde die Diversität und Inklusion.

«Diese Ziele lassen sich sehr gut mit Finanzen kombinieren, denn gemischte Teams und verschiedene Sichtweisen verhindern Vorurteile und stereotype Bewertungen und führen auch deshalb zu besseren Geschäftsergebnissen.» Gleichzeitig übt er sich in Selbstkritik, da es noch viel zu tun gebe. Aktuell habe Siemens beispielsweise noch zu wenig Frauen in Führungspositionen.

Der laufende Kulturwandel hat sich auch in der Ausnahmesituation mit COVID-19 und dem Lockdown bewährt. Trotz seiner Grösse reagiert der Konzern rasch und effektiv. «Zuerst schützten wir die Gesundheit der Mitarbeitenden und Partner. Dann setzten wir alles daran, Spitäler und andere kritische Infrastrukturen der Energiever­sorgung und Mobilität aufrechtzuerhalten», sagt Jörn Harde.

Das gelingt bis heute praktisch problemlos. Viele Teams arbeiteten bereits vor der Pandemie agil, sind digital fit und die Umstellung auf Home-Office war schnell möglich, virtuelle Meetings wurden in kurzer Zeit normal. Dabei sieht und hört die Führung genau hin. Sie will wissen, was die Menschen im Unternehmen wollen, wie Teams agieren und sich die Produktivität in dieser neuen Arbeitswelt entwickelt. Bald zeigt sich: Die Menschen schätzen die neue Flexibilität und das Vertrauen zahlt sich aus. «Trotz den neuen Herausforderungen und dem dezentralen Arbeiten sind wir bis jetzt ebenso produktiv oder sogar noch effizienter als zuvor», sagt Harde.

Hybrides Arbeitsmodell

Das hat den Konzern bereits im Juli dazu veranlasst, das mobile Arbeiten weltweit als neuen Standard einzuführen. «Wir wollten eines der ersten grossen Industrieunternehmen sein, bei dem zwei bis drei Tage pro Woche mobiles Arbeiten weltweit etabliert wird», sagt Jörn Harde begeistert und fügt sogleich hinzu: «Es ist kein simples ‹Home-Office für immer›, sondern ein hybrides Arbeitsmodell mit neuen Chancen und Herausforderungen.» Zentral sei, kein «neues Normal» zu verordnen. Die Teams wählen selbstständig und abhängig von der jeweiligen Funktion die beste Form der Zusammenarbeit. Das Arbeitsmodell in Produktion und Service kann sich dabei von Bürotätigkeiten unterscheiden. Die Pflege der direkten sozialen Kontakte bleibt wichtig und so treffen sich Kollegen weiterhin regelmässig persönlich. Das gilt für bestehende, vor allem aber auch für neue Teammitglieder. Harde ist überzeugt: «Kommt jemand neu an Board, ist die persönliche Begegnung durch nichts zu ersetzen.»

Seit 1894 ist Siemens in der Schweiz tätig. Heute gehören Sparten wie Energie, Mobilität, Digitalisierung, Gebäudetechnik, Automatisierung und Gesundheit zum Geschäft. In Zürich befindet sich der Hauptsitz der Siemens Schweiz AG, in Zug das internationale Headquarter des Zweiges «Smart Infrastructure». Hierzulande beschäftigt das Unternehmen inklusive Tochter­gesellschaften mehr als 5700 Mitarbeitende und erzielt einen Umsatz von 2,24 Milliarden Franken. Damit ist Siemens der grösste industrielle Arbeitgeber des Landes.

www.siemens.ch

Zudem besteht im Home-Office das Risiko, Privates und Berufliches stark zu vermischen oder keinen passenden Arbeitsplatz zu haben. Darum sei der achtsame Umgang mit sich und im Team essenziell. Das ist mitunter ein Grund, weshalb auch in Zukunft Büro- und Begegnungsräume bei Siemens eine zentrale Rolle spielen werden. Deren Benutzung ändert sich jedoch, wie unweit von Hardes Büro zu sehen ist.

«Trotz den neuen Herausforderungen und dem dezentralen Arbeiten sind wir bis jetzt ebenso produktiv oder sogar noch effizienter als zuvor.»

Derzeit stellt eine Abteilung auf das neue Arbeiten um. Dafür werden alle Schreibtische geräumt, damit sie jederzeit frei sind für jene, die vor Ort arbeiten. Und für mehr Offenheit und Transparenz entfernen Innendekorateurinnen den fast raumhohen Sichtschutz von der Glaswand des Sitzungszimmers. «Der Kulturwandel und die Flexibilisierung sind für Siemens keine Disruption, sondern eine Evolution, die individuell unterschiedlich stattfindet. Ziel sind die Zufriedenheit und produktive Zusammenarbeit – und nicht die Reduktion von Kosten. Das kann allenfalls die Folge davon sein.»

Als technisch versierte Person steht für ihn ausser Frage, dass sich viele Veränderungen durch COVID-19 etablieren werden. «Enorm viele Arbeitsprozesse können virtuell abgebildet werden.» Selbst grosse Meetings mit hundert Teilnehmenden und Teamarbeit können bereits heute digital abgehalten werden. «Dabei bewege ich mich als Figur durch den virtuellen Raum und nehme wie sonst auch an Gruppengesprächen teil.» Was wie ein Spiel klingt, funktioniere in der Praxis erstaunlich gut. Deshalb werde man auch künftig weniger reisen.

Kreativität und Kollaboration

Wie der physische Arbeitsplatz der Zukunft aussehen kann, zeigt Siemens am Hauptsitz des Geschäftsbereichs «Smart Infrastructure» in Zug. Dort steht seit 2018 ein Gebäude, das besonders nachhaltig und intelligent gebaut wurde. Die Räume bieten den Nutzern neuen Komfort, etwa durch die automatische Regulation der Wunschtemperatur. Und mit dem Innovation Space «Spark» steht allen ein inspirierendes Umfeld für verschiedene Arten der Zusammenarbeit offen. Mit viel Holz, Pflanzen und einladenden Möbeln ausgestattet, ist dieser Bereich weit entfernt vom klassischen Sitzungszimmer mit weissen Wänden. Die Räume und das kleine Amphitheater werden genauso für Design Thinking und Präsentationen genutzt wie für reguläre Meetings im Team oder eine Filmvorführung.

«Meine Vision und Hoffnung ist, dass wir den Menschen ein gesundes, kreatives Arbeitsumfeld bieten,eine Arbeitskultur, die sie erfüllt und in der alle gleich wichtig sind.»

Nicht nur im Innovation Space stehen Kreativität und Kollaboration im Zentrum. Ihnen gehört laut Jörn Harde auch die Zukunft. «Meine Vision und Hoffnung ist, dass wir den Menschen ein gesundes, kreatives Arbeitsumfeld bieten, eine Arbeitskultur, die sie erfüllt und in der alle gleich wichtig sind.» Dabei werde das «Warum» als Antrieb für das eigene Engagement weiter an Bedeutung gewinnen. «Unser Leitsatz ist: Wir verwirklichen, worauf es ankommt. Wir dienen der Gesellschaft und leisten unseren Beitrag für eine bessere Welt, etwa durch den stetig effizienteren Umgang mit den knappen Ressourcen. Dieser Purpose bereitet mir jeden Tag Freude und dafür stehe ich gerne auf.»

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Jörn Harde - Ganz persönlich

Das ceo Magazin feiert dieses Jahr sein 20-jähriges Jubiläum. Wo sind Sie vor 20 Jahren im Leben gestanden?
Ich war nach der kaufmännischen Aus­bildung bei Siemens im ersten Job bei Siemens Corporate Finance. Ein Jahr später habe ich meine Frau geheiratet.

Hätten Sie vor 20 Jahren gedacht, dass Sie heute CFO von Siemens Schweiz sein würden?
Nein. Die Schweiz habe ich allerdings bereits damals geliebt und ich wusste, dass ich einmal eine Führungsrolle anstrebe.

Wie halten Sie sich digital fit?
Durch Freude und Offenheit der Technik gegenüber und den Austausch vor allem mit jüngeren Mitarbeitenden, die die neuesten Trends kennen.

Weshalb erfüllt Sie Ihre Arbeit?
Zwei Dinge erfüllen mich: Der Austausch mit den vielen tollen Menschen – und unsere Technologien, die einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten.

Was ist für Sie persönlich das Wichtigste an Ihrem Arbeitsplatz?
Im direkten Umfeld das Vertrauen und die Freude. Arbeitszeit ist Lebenszeit und man soll auch mal lachen können.

Wie halten Sie es mit der Work-Life-Balance – oder der Work-Life-Integration?
Ich bin immer erreichbar, am Tag genauso für meine Frau wie am Abend für Mitarbeitende. Das funktioniert gut, denn hier in der Schweiz wird das Privatleben respektiert. Achtsamkeit ist wichtig, um im Lot zu bleiben.

Ihr Tipp an andere Unternehmen in Bezug auf die Arbeitswelt von morgen?
Die Eigenverantwortung jedes Einzelnen stärken und die Kontrolle aufgeben. Diese ist eh nicht möglich.