«Ein Roboter muss nicht alles können»

Text: Roberto Stefàno | Bilder: Markus Bertschi | Magazin: Homo digitalis – Juni 2018


#digital  #lokal  #analytisch

Mit der mobilen Lösung Twint will Firmenchef Thierry Kneissler den Bezahlvorgang massiv vereinfachen und die Digitalisierung in der Schweiz vorantreiben. Er ist überzeugt, dass in Zukunft die Maschinen die Menschen noch weiter entlasten werden. Dass sie dereinst aber auch Emotionen entwickeln, kann und will er sich nicht ausdenken.

«Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich irgendwann mit einem Roboter wie mit einem Menschen sprechen werde», sagt Thierry Kneissler. Dennoch ist der 47-jährige Chef der mobilen Bezahllösung Twint überzeugt, dass Mensch und Maschine in den kommenden Jahren viel intensiver und näher zusammenleben werden. So drängen digitale Assistenten, ausgestattet mit künstlicher Intelligenz, schon heute in unsere Wohnzimmer, während Roboter immer mehr Aufgaben ausserhalb der Industriehallen übernehmen. Wenn die beiden Technologien zukünftig noch stärker miteinander verschmelzen, sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. «Für manche Leute – einsame oder bedürftige Menschen – werden diese Maschinen sicherlich eine Bereicherung sein», glaubt er. Doch er relativiert sogleich: «Ich denke aber, es wird immer interessanter bleiben, mit anderen Menschen zu sprechen.»

Gegentrend zur Digitalisierung

In seiner Anmerkung schwingt auch ein Stück Hoffnung mit. Schliesslich geht es um existenzielle Fragen, wenn die Technologie immer mehr menschliche Formen annimmt: Was definiert eigentlich einen Menschen? Wodurch unterscheiden wir uns von den Maschinen? Sind Emotionen den Personen vorbehalten? «Ich bin nicht der Meinung, dass ein Computer oder Roboter alles kön­nen muss», sagt Kneissler. Roboter sollen den Menschen unterstützen und ihn nicht substituieren. Deshalb erwartet er auch, dass ein Gegentrend auf die verstärkte Digitali­sierung des Alltags erfolgen wird – vergleichbar mit jener Bewegung im Zuge der Globalisierung, die sich darin manifestiert, dass lokale Produkte wieder bevorzugt werden. «Die persönlichen sozialen Strukturen dürften wieder wichtiger werden, und man wird bewusst versuchen, die Digitalisierung und die Roboter aus gewissen Bereichen des privaten Lebens fernzuhalten», glaubt er.

«Die persönlichen sozialen Strukturen dürften wieder wichtiger werden, und man wird bewusst versuchen, die Digitalisierung und die Roboter aus gewissen Bereichen des privaten Lebens fernzuhalten.»

Kunden sollen Zahlung kaum mehr merken

Dabei arbeitet Kneissler eigentlich selber daran, mit Twint die Digitalisierung in der Schweiz voranzutreiben und das Verhalten der Menschen grundlegend zu verändern – zumindest, was deren Bezahlgewohnheiten anbelangt. Denn mit seiner Lösung erfolgen Zahlungen über das Smartphone, Geldbeträge können direkt und ortsunabhängig an ein Gegenüber überwiesen werden, und auch im E-Commerce erleichtert die Anwendung die Transaktionen. «In den meisten Prozessen wird irgendwann eine Zahlung fällig», erklärt der gelernte Ökonom. Mit Twint soll diese derart reibungslos erfolgen, dass sie der Kunde kaum noch bemerkt.Zu denken ist beispielsweise an einen Res­-taurantbesuch: Nach dem Essen sollen die Gäste zukünftig einfach das Lokal verlassen können, ohne die Rechnung abwarten zu müssen. Nicht als Zechpreller, sondern weil der geschuldete Betrag automatisch via Twint bezahlt wird.

Thierry Kneissler ist seit 2014 Chef von Twint, einer mobilen Bezahllösung, die Mitte 2016 mit der Konkurrentin Paymit fusionierte. Zuvor machte er bei der PostFinance Karriere, wo er seit 2004 zahlreiche Führungspositionen innehatte. Der 47-jährige Berner studierte Volks­wirtschaft an der Universität Bern sowie am University College Cork, Irland. An der Universität St. Gallen (HSG) absolvierte er 2001 ein Executive MBA. Kneissler ist verheiratet und Vater von zwei Kindernim Alter von zehn und zwölf Jahren.

Verhaltensänderung braucht Geduld

Technisch ist eine solche Anwendung grund­sätzlich schon heute möglich. Dennoch dürfte es noch einige Zeit dauern, bis diese in die Praxis umgesetzt ist. Vorerst geht es darum, das Smartphone als Bezahllösung zu etablieren. Zwar gebe es schon viele Leute, welche die neue Technologie nutzten und in ihren Alltag integrierten. «Twint ist da klar die Nummer 1 mit 800’000 registrierten Nutzern. Aber wie immer wird die breite Masse erst dann einsteigen, wenn sich der Eindruck verbreitet, dass alle es so machen», so Kneissler. Bis dahin brauche es Geduld.

Zum Vergleich führt er das kontaktlose Bezahlen mit der Kreditkarte an. Hierbei handelt es sich eigentlich nur um eine zusätzliche Funktion auf einem seit Jahren bestens eingeführten Zahlungsmittel. «Inzwischen zahlen immer mehr Leute kontaktlos. Lanciert wurde die Anwendung allerdings bereits vor sieben Jahren – und in den ersten Jahren war die Adaptionsrate gering», sagt der Twint-Chef. Anders als in Asien oder in Skandinavien dauert es hierzulande einfach länger, bis sich Innova­tionen im Markt durchsetzen würden.

Gespaltenes Verhältnis zur Anonymität

Die Skepsis wird häufig auf Sicherheitsbedenken oder den Verlust der Anonymität zurückgeführt, die mit der neuen Zahlungsmethode einhergeht. Sie steht allerdings in einem starken Gegensatz zum sonstigen Verhalten der hiesigen Bevölkerung. «Im Vergleich zum Ausland ist die Zahl derjenigen, die beispielsweise ein Kundenbindungsprogramm von Händlern nutzen, sehr gross», weiss Kneissler. Diese Daten würden einen weit tieferen Einblick ins Privatleben gewähren als seine Lösung. Und in den sozialen Medien würden viele Nutzer freiwillig auf ihre Anonymität verzichten. «Wenn man sieht, wie sich die Leute sonst verhalten, wirkt die Skepsis kaum verständlich, denn bei Twint werden die Sicherheitsstandards der Schweizer Banken konsequent angewendet», folgert er. «Von allen mobilen Zahlungsmethoden ist Twint die sicherste. Auch vom Datenschutz her, denn mit Twint brauchen Sie zum Beispiel im E-Commerce keine persönlichen Daten wie eine Kreditkartennummer usw. anzugeben.»

«Die hohe Mobilität ist auch eine Herausforderung für mich als Chef.»

Rastlosigkeit hat zugenommen

Insgesamt scheinen die Leute gegenüber der Digitalisierung aber durchaus positiv eingestellt zu sein. Die Mehrheit der Leute besitzt ein Smartphone und verfügt über einen privaten Internetanschluss. Dinge, die mehrere Stunden in Anspruch genommen haben, sind heute in wenigen Sekunden erledigt. «Das Leben ist dadurch aber auch viel schneller und hektischer geworden als früher», stellt der Twint-Chef fest. Man sei immer und überall erreichbar und hinterfrage oft nicht, ob alles immer sofort erledigt werden müsse. «Ich versuche, mich so weit wie möglich abzugrenzen», sagt Kneissler. Je hektischer der Arbeitsalltag allerdings ist, desto weniger gelingt ihm dies. Selbst in den Ferien kann er nicht gänzlich loslassen. «Ich versuche, fixe Zeiten einzuhalten und mich nur dann der Arbeit zu widmen», sagt er. Eine ständige Erreichbarkeit lehnt der zweifache Familienvater ab. Dies versucht er auch seinen Kindern mit auf den Weg zu geben. Am Abend bleiben die ele­k­tro­nischen Geräte jedenfalls in der Küche.

Mit der mobilen Bezahllösung Twint können die Nutzer direkt ab ihrem Bankkonto Transaktionen im E-Commerce, an der Kasse und an Automaten vornehmen. Zudem besteht die Möglichkeit, Geldbeträge direkt von einer Privatperson zur nächsten zu überweisen. Die App gehört den sechs grössten Schweizer Banken sowie dem Finanzinfrastruktur-Dienstleister SIX und wird von 65 Schweizer Banken angeboten. Mit über 800’000 registrierten Nutzern ist sie die am weitesten verbreitete Bezahl-App der Schweiz.

www.twint.ch

Mobilität als Herausforderung

Vor allem aus der Arbeitswelt ist die Digitalisierung heute nicht mehr wegzudenken. So hat Kneissler das papierlose Büro heute praktisch umgesetzt, dank Notebook und Smartphone arbeitet er ortsunabhängig, einen eigenen Arbeitsplatz benötigt er nicht mehr. Wie die anderen Mitarbeitenden nutzt er im Twint-Büro in Bern in der ehemaligen Konsummolkerei eines der freien Pulte. Kommuniziert wird per E-Mail, Messenger oder in Telefonkonferenzen – und zwar deutlich mehr als früher. «Die hohe Mobilität ist auch eine Herausforderung für mich als Chef», sagt er. Deshalb achtet er darauf, dass zumindest bei den Geschäftsleitungsmeetings möglichst alle Teilnehmenden physisch anwesend sind. Die Führung der dezentralen Teams erfordere zudem grosses Vertrauen. Da man aufgrund der Distanz über weniger Kontrollmöglichkeiten verfüge, müsse man sich auf die Leute verlassen können. Entsprechend gründlich erfolgte die Auswahl der Partner, mit denen er zusammenarbeiten wolle.

Verantwortungsvollen Umgang lernen

Alles in allem überwiegen für Kneissler die Vorteile der Digitalisierung bei weitem – und sie dürften noch grösser werden. Besonders im Gesundheitssektor und in der Mobilität erwartet er noch deutliche Fortschritte. «In 20 Jahren werden wir wohl keine eigenen Autos mehr besitzen, was einen beachtlichen Einfluss auf das Stadtbild haben wird», sagt der überzeugte ÖV-Nutzer. Schliesslich dürfte auch die Freizeitindustrie an Bedeutung gewinnen, wenn die Menschen dank der Digitalisierung mehr Zeit für sich übrig haben. «Ob wir diese dann allerdings für die Selbstverwirklichung nutzen oder sie in den sozialen Medien verbringen werden, ist eine andere Frage», stellt er fest. Denn wie immer, wenn etwas neu sei und die Gewohnheiten massgeblich verändere, müssten die Leute zuerst einen verantwortungsvollen Umgang damit lernen. «Es wird bestimmt auch Exzesse geben, die es zu korrigieren gilt», ist er überzeugt. Doch eines ist für Kneissler klar: Die Leute wollen nicht mehr zurück.

Thierry Kneissler
Kurze Fragen – kurze Antworten

Hintergrundbild auf Smartphone:
Foto vom Aufstieg mit der Familie auf den Mount Fuji, früh am Morgen

Traumberuf als Kind:
«Pilot (hat sich aber schnell verflüchtigt)»

Laufbahn:
«Schule, Gymnasium, Wirtschaftsstudium. Dann Interesse am Bankwesen, daher zuerst zu einer Kantonalbank und danach zu Postfinance.»

Erstes Handy:
«Sony Ericsson, ein rotes Modell, relativ schmal. Modell weiss ich nicht mehr, aber ich war einer der wenigen ohne Nokia.»