«Etwas zu machen,
heisst immer auch,
etwas nicht zu machen»

Text: Marah Rikli | Bilder: www.foto-shooting.ch | Magazin: Aus Mut gemacht – Oktober 2022

Ein Gespräch mit der Zattoo-Gründerin Bea Knecht über Fokus, den Mut, Angebote abzulehnen, und darüber, warum sich die Schweiz nicht klein machen sollte.

Bea Knecht, Sie studierten 1990 an der Universität Berkeley. Im Keller stand ein Supercomputer im Wert von 25 Millionen Dollar. Sie berechneten damals, dass dieser im Jahr 2005 für den Durchschnittshaushalt erschwinglich sein müsste.

Diese Berechnung war einer der Ursprünge zur Idee von Zattoo.

Inwiefern?

Ich berechnete, dass Mikroprozessoren diesen Supercomputer im Keller – einen Cray 2 mit 244 Megahertz Taktrate – im Jahr 2005 übertreffen und statt eines Kellers der Computer-Chip noch die Grösse eines Zuckerwürfels haben würde. Das war in Bezug auf Zattoo hoch relevant: Ein Flachbildschirm, der HDTV kann, würde demnach den Endnutzer nur noch 2500 US-Dollar kosten. Heute sind es sogar nur noch 500 US-Dollar. Damals in Berkeley lernte ich auch Sugih Jamin kennen, mit dem ich später Zattoo gründete. Er leitete einen Kurs zur Visualisierung von mathematischen Funktionen. Da bin ich ihm offenbar positiv aufgefallen. Wir wurden Freunde.

Sie gingen vor Zattoo aber erst andere Wege.

Nach dem Studium war ich bei der UBS tätig, dann bei McKinsey, ausserdem entwickelte ich zwei Softwareprodukte. Sugih Jamin versuchte mich währenddessen zwei Mal für die Kommerzialisierung seiner Forschungsprojekte zu gewinnen. Seine Ideen waren jedes Mal strategisch sehr weitsichtig: Die erste Anfrage bezog sich auf geolokalisierte Kurznachrichten, ähnlich wie heute Twitter. Seine zweite betraf die Entwicklung von Videospielen mit mehreren Spielern, sogenannten Multiplayer-Games, was heute Standard ist. Als er dann schlussendlich mit der dritten Anfrage, also mit der TV-Idee, auf mich zu­kam, sagte ich zu. Wir wurden Co-Founder.

Warum warteten Sie so lange mit einer Zusage für ein Projekt?

Ich war in andere Projekte involviert, die mich in dieser Zeit sehr absorbierten. Zudem bin ich in meiner Karriere auf einen roten Faden bedacht – auch wenn man diesen nicht immer sofort erkennt. Ich habe in Fünfjahresabschnitten bei grossen Firmen gearbeitet. Meine Erkenntnisse aus den fünf Jahren «destillierte» ich jeweils zu einem Produkt. Bei der UBS erfuhr ich, welche Bedürfnisse eine Grossbank in Bezug auf Rechenzentren hat. Also konzipierte ich im Anschluss eine Rechenzentrum-Software für Banken. Oder das HR-Produkt, das ich für SAP entwickelte: Darin sind sehr viele Erkenntnisse aus den fünf Jahren bei McKinsey enthalten. Nur die Berechnung von 1990 in Berkeley war 2004 noch unverarbeitet: Es wurde also Zeit für ein Produkt, welches die Erkenntnisse von Berkeley verwertete. Das war der Beginn von Zattoo.

Zattoo ist mit rund 3 Millionen monatlichen Nutzer:innen die grösste Internetfernsehen- und Video-on-Demand-Plattform in Europa. 2005 von Bea Knecht und Sugih Jamin gegründet, beschäftigt die Aktiengesellschaft mit Sitz in Zürich heute 220 Mitarbeitende.

Seit 2012 betreibt Zattoo zudem ein eigenes B2B-Geschäft und stellt seine Technologie auch Medienunternehmen und Netzbetreibern zur Verfügung.

Zattoo wurde 2020 mit dem Emmy Award in der Kategorie «Technology and Engineering» ausgezeichnet.

www.zattoo.com

Viele Menschen hätten nicht den Mut gehabt, zwei Mal interessante Angebote eines angesehenen Professors abzu lehnen.

Ich glaube, etwas zu machen, heisst immer auch, etwas nicht zu machen. So lehne ich immer wieder auch Anfragen ab oder stelle ein Projekt ein. Dabei verfolge ich nicht unbedingt diejenigen Projekte, welche auf den ersten Blick als die besten erscheinen, sondern die, welche sich in einer ganzen Serie an Überlegungen als die besten herausstellen. «Opportunity favors the prepared mind.» Hat man sich mit der Idee tief genug beschäftigt und kommt die Gelegenheit zur Umsetzung, macht es dann auch automatisch «Klick» und man geht das Wagnis ein. Der Schlüssel zum Erfolg ist die gute Vorbereitung.

Was braucht es in Ihren Augen noch, um erfolgreich zu sein?

Ein mutiges Voran-Stehen. Das übt man am besten bereits im Kindesalter. Zum Beispiel in einem Verein, in dem das Kind lernt, Verantwortung zu übernehmen. Dann braucht es ein Interesse an Führung, Bescheidenheit und das Verständnis dafür, dass es nicht immer nur um die grossen Dinge geht. Es sind die kleinen Erkenntnisse, die später zu grossen Schlüsselmomenten führen. Sehr wichtig ist eine Kombination von direktiver und konsultativer Kommunikation. Wenn wir gehört werden wollen, müssen wir direkt kommunizieren. Diesen Rat richte ich vor allem an Frauen.

«Stellen Sie sich das Leben wie einen wilden Bergbach mit Felsen vor, in dem Sie sich über Wasser halten.»

Kommunikation gilt aber eigentlich als eine Stärke von Frauen.

Das trifft häufig zu, ja. Aber es fehlt ihnen ebenso häufig an den richtigen Kommunikationswerkzeugen für die Führung der Teams – das ist ein grosses Hindernis. Die heutigen mächtigen technischen Werkzeuge sind von Männern für Männer entwickelt. Es braucht Zeitaufwand und Nerven, bis man diese Werkzeuge beherrscht. Das schreckt viele Frauen ab.

Warum?

Weil sie über weniger Zeit am Stück verfügen als Männer. Ihr Schaffen wird immer wieder unterbrochen, sowohl während eines Tages wie auch während ihres Lebens. Das führt dazu, dass Frauen stattdessen versuchen, ihr gesamtes Leben – auch ihre Karriereentwicklung und Recherchen – auf ihrem iPhone zu meistern. Das ginge besser auf einem Laptop mit grösserem Bildschirm. Wenn ihnen das nicht passt, beispielsweise weil ein Laptop zu kompliziert ist, sollten Frauen sich einklinken in die Entwicklung neuer Technologien, damit diese ihren Bedürfnissen besser entsprechen. Als angenehmer Nebeneffekt würden technische Produkte so nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer besser werden.

Bea Knecht wurde 1967 in Zürich geboren und wuchs in der Schweiz auf. Sie studierte an der University of California in Berkeley Informatik und absolvierte ein Masterstudium in Business Administration am International Institute for Management Development (IMD) in Lausanne. Danach war sie bei der UBS und von 1996 bis 2001 als Associate Partnerin bei der Unternehmens- und Strategieberatung McKinsey tätig. Es folgten Stationen beim IT-Dienstleistungsunternehmen Linuxcare und beim Softwarekonzern SAP. 2005 gründete sie gemeinsam mit Sugih Jamin den Schweizer TV-Streamingdienst Zattoo. 2012 gab Bea Knecht die Geschäftsführung von Zattoo ab und ist heute Vizepräsidentin des Verwaltungsrats.

Bis zu ihrer Transition 2012 lebte Bea Knecht als Beat Knecht.

Sie schreiben in einem Gastbeitrag im Buch «50 Jahre Frauenstimmrecht»: Frauen brauchten für Erfolg viel Resilienz. Wie meinen Sie das?

Frauen müssen immer wieder neu anfangen. Etwa bei Schwangerschaften. Sie werden durch die Geburt des Kindes und den Mutterschaftsurlaub unterbrochen in ihrer Karriere, sie verlieren Zeit. In der Informatik sind diese Monate oder gar Jahre eine Zeitspanne, in der sich die Technologie enorm entwickeln kann. Kehrt die Frau dann an den Arbeitsplatz zurück, muss sie nochmals viel mehr Energie und Zeit investieren als der Kollege, der keine Unterbrechung hatte. Das braucht Resilienz. Ausserdem braucht es Expert:innen-Wissen und Erfahrung für eine Karriere: Hier erwähne ich immer wieder die 10’000 Stunden, die nötig sind, um sich Expertise anzueignen. Frauen werden auch darin unterbrochen. Sie brauchen also einen langen Atem und Fokus.

Wie schaffen Sie es, sich zu fokussieren?

Ich konzentriere mich auf meine Arbeit und lasse andere Dinge unangetastet. Ein einfaches Beispiel sind meine Versicherungen. Ich habe noch nie im Leben einen Versicherungsvergleich gemacht, ich optimiere hier nicht. Ich habe seit Jahrzenten die gleiche Handynummer, die gleiche Bank. Ich kümmere mich um anderes. Es gibt so viele Dinge, die wir uns im Leben überlegen müssen – man kann nicht alles optimieren. Durch das meiste werden wir sowieso durchgeschwemmt.

Durchgeschwemmt?

Stellen Sie sich das Leben wie einen wilden Bergbach mit Felsen vor, in dem Sie sich über Wasser halten. An den einen Felsen schwimmen Sie vorbei, an anderen krallen Sie sich fest. So sehe ich das Leben. Dabei passieren auch Unglücke oder Unfälle.

Was erlebten Sie für Unfälle in Ihrer Karriere?

Im Silicon Valley machte ich mit dem Platzen der «Dotcom-Blase» und mit «9/11» zwei riesige Krisen durch. Sowas bricht über einen hinweg wie ein unverschuldeter Unfall. Es gibt aber auch Schäden bei Nichtstun: Bei Apple habe ich zum Beispiel in den 1980er Jahren die Schrift «The Computer Of The Year 2000» eingereicht. Später in den 90ern war ich jedoch so auf UBS und McKinsey und den elterlichen Betrieb (ein Transportunternehmen) fokussiert, dass ich mich diesem Interesse nicht widmete. Eine verpasste Chance für mich. Als dann McKinsey im Silicon Valley zusammenbrach, gab es natürlich Momente, in denen ich mit solchen Entscheidungen haderte. Das Ende bei McKinsey hatte aber auch positive Seiten: Es gab mir die Motivation, mich dem Anfang von Zattoo zu widmen.

«Ich bin in meiner Karriere auf einen roten Faden bedacht – auch wenn man diesen nicht immer sofort erkennt.»

Braucht es auch Skepsis, wenn man Erfolg hat?

Mit dem Erfolg kommen auch die Menschen, die einem etwas wegnehmen möchten oder einen an der Nase herumführen. In der Geschäftswelt ist das sogenannte «Gaslighting», bei dem das Gegenüber sehr subtil in seiner Wahrnehmung verunsichert wird, stark verbreitet. Ein Beispiel: Sie haben eine Firma gegründet, die nun erfolgreich ist. Jetzt sagt Ihnen jemand mit ökonomischen Interessen, sie hätten zwar gut gegründet, die Skalierung sollen Sie aber jemand anderem überlassen. Hellhörig machen mich auch Aussagen in der Entwicklungsphase wie: «Sie sind zwar gut, aber jetzt ist es an der Zeit, die Profis ranzulassen.» Hier ist das Hinzuziehen einer weiteren Vertrauensperson angebracht. Aber es wäre schade, niemandem mehr Initialvertrauen zu schenken.

In einem Panel für Avenir Suisse sagten Sie, die Schweiz trete anderen nicht gerne «auf den Schlips». Ist Ihnen die Schweiz zu wenig selbstbewusst, zu wenig mutig?

Grundsätzlich ist es gut, wie die Schweiz kommuniziert. Wir betrachten unsere Angelegenheiten stets aus verschiedenen Blickwinkeln, das ist lobenswert. Die Schweiz ist sehr behutsam und schonungsvoll, sowohl mit der eigenen Bevölkerung als auch mit anderen Ländern. Sie macht sich jedoch oft kleiner und unwichtiger, als sie wirklich ist. In der Wissenschaft bremst das aus und ist häufig inkonsequent. Wir möchten in der Wissenschaft nämlich nicht sagen: «Wir haben jetzt zwar dieses Atom entdeckt – aber vielleicht haben wir es doch nicht entdeckt.»

Wünschen Sie sich mehr Mut der Schweiz?

Ich finde, die Schweiz muss gar nicht immer so zurückstecken und auf klein machen. Wir haben sehr viel erreicht, machen wichtige Forschungen zusammen mit Expert:innen aus anderen Ländern – das sollte man unbedingt schärfen und mehr durchsetzen.

Bea Knecht – Ganz persönlich

Beim Begriff «Mut» denke ich als Erstes an …
den Zeitpunkt, an dem man etwas umsetzt.

Mut hat für mich die Farbe …
Rot, sicher nicht Blau.

Mein Mut-Vorbild ist …
Elon Musk.

Dieses Tier verkörpert meinen persönlichen Mut am besten …
kein einzelnes Tier, alle Tiere haben Mut.

Wer mutig entscheiden will, muss …
bereit sein, mit der Unsicherheit umzugehen, die nach einem mutigen Entscheid folgt.