Vergleichen Sie bitte das Auswahlverfahren hier in der Schweiz mit demjenigen in Entwicklungsländern.
In den Entwicklungsländern sind wir Tag für Tag mit der Patientenauswahl konfrontiert. Selektion gehört zu unserem Alltag. In Mosambik und Kambodscha stehen 2000 bis 3000 Kinder im Wartezimmer. Doch während eines zweiwöchigen Aufenthalts können wir nur 30 davon operieren. Unsere Auswahlkriterien sind also äusserst strikt. Wir entschliessen uns jeweils für die relativ einfachen Fälle, die im Operationssaal nicht allzu lange dauern und mit einer Operation geheilt werden können; also für solche, die keine lebenslange Pflege benötigen. Eine solche steht ohnehin nicht zur Verfügung.
Haben Sie die Selektion im Lauf der Zeit erweitert?
Ja. Die lokalen Ärzte und Pflegefachkräfte, die wir ausgebildet haben, kümmern sich nun um die einfachen Fälle. So habe ich Zeit für Kinder mit komplexeren Herzleiden, die ich früher ablehnen musste. Wir haben vor zwölf Jahren in Mosambik begonnen und nur Fälle des Schweregrads 1 bis 2 (von 5) behandelt. Nun können wir uns auch um Fälle des Schweregrads 3 und 4 kümmern. Patienten des Schweregrads 5 können wir immer noch nicht behandeln, da diese übermässig viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen und oft erweiterte Pflegekapazitäten erfordern, über die wir nicht verfügen. Intensivpflegefachkräfte sind dabei absolut entscheidend: Wenn ein Monitor in der Nacht piepst, muss jemand reagieren können. Und in einem Zimmer mit Kindern, die eine Herzoperation hinter sich haben, piepst es dauernd.
«Ärzte sind sozusagen Wissenschaftler geworden, die in Zahlen und kompliziertem Fachjargon sprechen.»
Was ausser Geld braucht die Herz-chirurgie in den Entwicklungsländern am meisten?
Soziale Stabilität und Bildung. In dieser Hinsicht haben wir indirekt ein kleines Unternehmen geschaffen, da wir lokal Fachkräfte ausbilden. Diese Menschen haben eine Arbeitsstelle erhalten – nicht nur Ärzte und Pflegefachkräfte, sondern auch Hilfsfachkräfte von Administratoren über Köche bis hin zu Gärtnern. Mit einem sicheren Arbeitsplatz und einem regelmässigen Einkommen führen diese Personen ein stabiles Leben und schicken ihre Kinder in die Schule oder sogar auf die Universität.
Zurück in die Schweiz. Vertrauen die Patienten ihren Ärzten heute weniger als früher?
Möglicherweise, hauptsächlich weil sich die Verhältnisse mit der Zeit verändert haben. Vor Jahren gingen die meisten Menschen zum Hausarzt, den sie sowohl persönlich als auch als Patient kannten. Heute gehen sie ins Spital und werden von zehn Gesundheitsexperten untersucht – kaum einen davon kennen sie wirklich. Wir Ärzte sind sozusagen Wissenschaftler geworden, die in Zahlen und kompliziertem Fachjargon sprechen. Ein Beispiel: Einmal beschwerte sich ein Vater, dessen Sohn hohes Fieber hatte. Der Arzt wollte in der Nacht nicht mehr zu ihm nach Hause kommen, sondern empfahl dem Vater, das Kind ins Spital zu bringen. Eine richtige Entscheidung übrigens. Es ist mir klar, dass ein Hausbesuch persönlicher gewesen wäre. Aber in einem Spital kann man einen lebensbedrohenden Zustand rascher erkennen und schneller mit einer wirksamen Behandlung beginnen. Dort gibt es notwendige Ressourcen, die zu Hause nicht verfügbar sind. Tatsache ist: Unsere Pflege ist unpersönlicher geworden, aber gleichzeitig auch besser – viele erkennen das nicht. Denn zehn Gesundheitsexperten können schliesslich mehr Patienten behandeln und bessere Ergebnisse erzielen als ihre Vorgänger.
«Die Automatisierung in der Medizin nimmt zu, aber in der Herzchirurgie schaffen wir immer noch Dinge mit unseren Händen.»
Welche Änderungen in der Medizin haben Sie am meisten überrascht?
Die künstlichen Herzen – einige davon setzen sich komplett über die traditionelle Logik der Medizin hinweg. Bei einem Elektrokardiogramm mit künstlichem Herz erhält man kein Signal mehr, nur eine Nulllinie. Bei gewissen Herzen schwankt der Blutdruck bei Kontraktionen nicht, er bleibt unverändert – ganz ohne Puls. Wenn man ein Stethoskop auf die Brust des Patienten legt, hört man das Herz nicht mehr schlagen. Aber in allen Fällen lebt der Patient. Andererseits gibt es dank den neuen Technologien eine Vielzahl an möglichen Behandlungen. Früher hatten wir eine oder zwei Möglichkeiten, um ein Problem zu lösen. Heute gibt es ein Dutzend.
Technologie ist ein fester Bestandteil des Lebens geworden, sowohl in der Medizin als auch in anderen Bereichen.
Es führt kein Weg an ihr vorbei. Die Automatisierung nimmt ebenfalls zu. Insbesondere bei der Behandlung von Herzproblemen und in der Herzchirurgie ist eine lukrative Industrie entstanden, die sich um die Belieferung von Apparaten mit Stents, Klappen und anderem Behandlungsmaterial kümmert. Trotzdem: In der Herzchirurgie ist das Handwerk selbst immer noch sehr gefragt – wir erschaffen Dinge mit unseren Händen. Bei der Reparatur einer beschädigten Klappe zum Beispiel werden weniger begabte Chirurgen diese einfach austauschen – ein Kinderspiel. Kunstfertige Chirurgen hingegen werden die Klappe rekonstruieren. Kurzfristig gibt es beim Resultat keinen Unterschied, aber längerfristig wird bei der ersten Option eine Nachoperation erforderlich sein. Chirurgische Kunstfertigkeiten und kreatives Denken führen also immer noch zu besseren Ergebnissen. Chirurgen müssen den «Plug and Play»-Standard erst noch erreichen, falls es diesen überhaupt gibt.