Herzchirurgie – Beruf und Berufung

Der berühmte Herzchirurg René Prêtre erachtet die Modernisierung der Medizin als eine Kombination aus Vor- und Nachteilen. Der technologische Fortschritt ist enorm, doch die verfügbaren finanziellen Mittel sind begrenzt. Medizinische Teams sorgen für eine immer bessere Pflege, aber diese wird unpersönlicher. Die Automatisierung boomt, doch solides Handwerk ist noch immer gefragt.

Text: Eric Johnson | Bilder: Marc Wetli | Magazin: Life & Science – Juli 2017

Sollten Spitäler und Kliniken gleich wie Unternehmen geführt werden?

Nein. Wir sind dazu da, um Dienstleistungen zu erbringen, und nicht, um Gewinne zu erzielen. Öffentliche Spitäler – zumindest in einem Land wie der Schweiz – sollen allen Menschen helfen. Zurzeit kann unsere Gesellschaft diese Ressourcen noch auf­bringen. Allerdings werden sie eines Tages überstrapaziert sein, einfach weil die Verfügbarkeit von Medikamenten weiterhin rasch ansteigt und die Zahlungsfähigkeit irgendwann ausgereizt ist. Noch sind wir nicht an diesem Punkt angelangt, aber irgendwann werden nicht mehr alle Men­schen jede medizinische Behandlung erhalten. Ich habe grundsätzlich kein Problem mit dieser Einschränkung, da wir bereits über ein ausserordentliches Gesundheits­wesen verfügen. Doch die Regeln, wonach Patienten eine Behandlung erhalten oder nicht, müssen vorzeitig klar und fair fest­gelegt werden und für alle gleich sein.

«Irgendwann werden nicht mehr alle Menschen jede medizinische Behandlung erhalten.»

Ist die Finanzierung also die grösste Herausforderung der Medizin?

Auf jeden Fall eine grosse. Ein gutes Beispiel sind künstliche Herzen. Diese werden immer besser. Bis vor zwei Jahren wurden künstliche Herzen nur als Überbrückung bis zur Transplantation eingesetzt, um die Patienten am Leben zu erhalten, bis ein Spenderherz verfügbar war. Nur Patienten, die für eine Transplantation infrage kamen, aber gestorben wären, bevor ein echtes Herz verfügbar wurde, erhielten das Gerät. Künstliche Herzen sind heute so gut, dass Patienten damit drei oder vier Jahre über­leben, während sie auf der Warteliste stehen. Darum haben wir deren Verfügbar­keit auf Patienten ausgedehnt, die nicht für eine Transplantation infrage kommen. Aber diese Maschinen sind sehr teuer, ebenso das Einsetzen und die Wartung. Allein in der Schweiz leiden jährlich 1000 bis 1500 neue Patienten an Herzinsuffizienz, die daran sterben werden. Technisch gesehen könnten wir all diesen Menschen ein künstliches Herz einsetzen. Doch wer bezahlt das? Damit will ich sagen, dass die Medizin viel kann, aber in der Praxis finanzielle Einschränkungen bestehen.

Wie wählen Sie die Patienten aus, die ein künstliches Herz erhalten?

In meinem Spital haben wir über ein Gesamt­budget abgestimmt – indirekt also auch darüber, wie viele Geräte eingesetzt werden können. Ausserdem haben wir die Aus­wahlkriterien festgelegt, etwa das Alter. Selbstverständlich haben Transplan­tationspatienten immer noch erste Priorität.

René Prêtre ist auf einem Bauernhof im Kanton Jura aufgewachsen. Er studierte Medizin in Genf und praktizierte als Chirurg in den USA, in England und Frankreich. Bis 2012 war er Leiter der Kinderherzchirurgie im Kinderspital Zürich. Danach zog er nach Lausanne, wo er Professor für Chirurgie an der Universität und Leiter der Herzchirurgie am Universitätsspital wurde. 2006 gründete er «Le Petit Cœur», eine Wohltätigkeitsorganisation, in deren Auftrag er und sein Team regelmässig nach Mosambik und Kambodscha reisen, um bei benachteiligten Kindern Herzoperationen durchzuführen und lokale Ärzte sowie Pflegefachkräfte auszubilden. 2016 hat René Prêtre den Bestseller «Et au centre bat le cœur» herausgegeben, in dem er die technischen, finanziellen, emotionalen und betriebswirtschaftlichen Herausforderungen in der Kinderherzchirurgie in Schwellen- und Industrieländern beleuchtet. Die deutschsprachige Version «In der Mitte schlägt das Herz» wurde im April 2017 veröffentlicht.

www.le-petit-coeur.ch

Vergleichen Sie bitte das Auswahl­verfahren hier in der Schweiz mit dem­jenigen in Entwicklungsländern.

In den Entwicklungsländern sind wir Tag für Tag mit der Patientenauswahl konfron­tiert. Selektion gehört zu unserem Alltag. In Mosambik und Kambodscha stehen 2000 bis 3000 Kinder im Wartezimmer. Doch während eines zweiwöchigen Aufenthalts können wir nur 30 davon operieren. Unsere Auswahlkriterien sind also äusserst strikt. Wir entschliessen uns jeweils für die relativ einfachen Fälle, die im Operationssaal nicht allzu lange dauern und mit einer Opera­tion geheilt werden können; also für solche, die keine lebenslange Pflege benöti­gen. Eine solche steht ohnehin nicht zur Verfügung.

Haben Sie die Selektion im Lauf der Zeit erweitert?

Ja. Die lokalen Ärzte und Pflegefachkräfte, die wir ausgebildet haben, kümmern sich nun um die einfachen Fälle. So habe ich Zeit für Kinder mit komplexeren Herzleiden, die ich früher ablehnen musste. Wir haben vor zwölf Jahren in Mosambik begonnen und nur Fälle des Schweregrads 1 bis 2 (von 5) behandelt. Nun können wir uns auch um Fälle des Schweregrads 3 und 4 küm­mern. Patienten des Schweregrads 5 können wir immer noch nicht behandeln, da diese übermässig viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen und oft erweiterte Pflegekapazitäten erfordern, über die wir nicht verfügen. Intensivpflegefachkräfte sind dabei absolut entscheidend: Wenn ein Monitor in der Nacht piepst, muss jemand reagieren können. Und in einem Zimmer mit Kindern, die eine Herzoperation hinter sich haben, piepst es dauernd.

«Ärzte sind sozusagen Wissenschaftler geworden, die in Zahlen und kompliziertem Fachjargon sprechen.»

Was ausser Geld braucht die Herz-chirurgie in den Entwicklungsländern am meisten?

Soziale Stabilität und Bildung. In dieser Hinsicht haben wir indirekt ein kleines Unternehmen geschaffen, da wir lokal Fach­kräfte ausbilden. Diese Menschen haben eine Arbeitsstelle erhalten – nicht nur Ärzte und Pflegefachkräfte, sondern auch Hilfsfachkräfte von Administratoren über Köche bis hin zu Gärtnern. Mit einem sicheren Arbeitsplatz und einem regelmäs­sigen Einkommen führen diese Personen ein stabiles Leben und schicken ihre Kinder in die Schule oder sogar auf die Universität.

Zurück in die Schweiz. Vertrauen die Patienten ihren Ärzten heute weniger als früher?

Möglicherweise, hauptsächlich weil sich die Verhältnisse mit der Zeit verändert haben. Vor Jahren gingen die meisten Menschen zum Hausarzt, den sie sowohl persönlich als auch als Patient kannten. Heute gehen sie ins Spital und werden von zehn Gesund­heitsexperten untersucht – kaum einen davon kennen sie wirklich. Wir Ärzte sind sozusagen Wissenschaftler geworden, die in Zahlen und kompliziertem Fachjargon sprechen. Ein Beispiel: Einmal beschwerte sich ein Vater, dessen Sohn hohes Fieber hatte. Der Arzt wollte in der Nacht nicht mehr zu ihm nach Hause kommen, sondern empfahl dem Vater, das Kind ins Spital zu bringen. Eine richtige Entscheidung übrigens. Es ist mir klar, dass ein Hausbesuch persönlicher gewesen wäre. Aber in einem Spital kann man einen lebensbedrohenden Zustand rascher erkennen und schneller mit einer wirksamen Behandlung beginnen. Dort gibt es notwendige Ressourcen, die zu Hause nicht verfügbar sind. Tatsache ist: Unsere Pflege ist unpersönlicher geworden, aber gleichzeitig auch besser – viele erkennen das nicht. Denn zehn Gesundheitsexperten können schliesslich mehr Patienten be­handeln und bessere Ergebnisse erzielen als ihre Vorgänger.

«Die Automatisierung in der Medizin nimmt zu, aber in der Herzchirurgie schaffen wir immer noch Dinge mit unseren Händen.»

Welche Änderungen in der Medizin haben Sie am meisten überrascht?

Die künstlichen Herzen – einige davon setzen sich komplett über die traditionelle Logik der Medizin hinweg. Bei einem Elektrokardiogramm mit künstlichem Herz erhält man kein Signal mehr, nur eine Nulllinie. Bei gewissen Herzen schwankt der Blutdruck bei Kontraktionen nicht, er bleibt unverändert – ganz ohne Puls. Wenn man ein Stethoskop auf die Brust des Patienten legt, hört man das Herz nicht mehr schlagen. Aber in allen Fällen lebt der Patient. Andererseits gibt es dank den neuen Technologien eine Vielzahl an möglichen Behandlungen. Früher hatten wir eine oder zwei Möglichkeiten, um ein Problem zu lösen. Heute gibt es ein Dutzend.

Technologie ist ein fester Bestandteil des Lebens geworden, sowohl in der Medizin als auch in anderen Bereichen.

Es führt kein Weg an ihr vorbei. Die Auto­matisierung nimmt ebenfalls zu. Insbeson­dere bei der Behandlung von Herzproblemen und in der Herzchirurgie ist eine lukrative Industrie entstanden, die sich um die Be­lieferung von Apparaten mit Stents, Klappen und anderem Behandlungsmaterial kümmert. Trotzdem: In der Herzchirurgie ist das Handwerk selbst immer noch sehr gefragt – wir erschaffen Dinge mit unseren Händen. Bei der Reparatur einer beschä­digten Klappe zum Beispiel werden weniger begabte Chirurgen diese einfach aus­tauschen – ein Kinderspiel. Kunstfertige Chirurgen hingegen werden die Klappe rekonstruieren. Kurzfristig gibt es beim Resultat keinen Unterschied, aber länger­fristig wird bei der ersten Option eine Nach­operation erforderlich sein. Chirurgische Kunstfertigkeiten und kreatives Denken führen also immer noch zu besseren Ergeb­nissen. Chirurgen müssen den «Plug and Play»-Standard erst noch erreichen, falls es diesen überhaupt gibt.

Maputo (Mosambik), Mai 2015: René Prêtre und sein Team glücklich am letzten Tag der Mission. Sämtliche Operationen waren erfolgreich.