Text: Erik Brühlmann | Bilder: Markus Bertschi | Magazin: Grüne Chance – November 2021
Für Unternehmen im Energiebereich ist Nachhaltigkeit mehr als nur ein modischer Begriff. Und für Antje Kanngiesser, CEO von Alpiq, steht fest: Es geht dabei um viel mehr als um den Energiemix und das nächste Windrad.
Der Begriff «Nachhaltigkeit» ist heute omnipräsent, zuweilen auch überstrapaziert. Wie interpretieren Sie ihn?
Persönlich fängt es für mich damit an, dass ich mir bewusst bin, was mein Handeln für Auswirkungen hat. Es geht bei Nachhaltigkeit um Rücksichtnahme und Genügsamkeit zugunsten der Allgemeinheit. Brauche ich etwas wirklich? Muss ich es jetzt kaufen? Bei Alpiq interpretieren wir Nachhaltigkeit nach den drei P: finanzielle Performance, soziale Performance und Umweltperformance.
Beim Thema Nachhaltigkeit kollidieren oft kurzfristige mit langfristigen Interessen. Wie bringt man das unter einen Hut?
Nicht nur bei der Nachhaltigkeit stehen das kurzfristige operative Geschäft und das langfristige strategische Geschäft einander manchmal im Weg. Wichtig ist für ein Unternehmen, dass klar ist, wie es hinsichtlich seiner Werte aufgestellt ist. Ergreift man eine Gelegenheit, weil sie schnelles Geld verspricht, oder verzichtet man bewusst, weil das Geschäft nicht den Unternehmenswerten entspricht? Das sind spannende Diskussionen, auch mit den Aktionären.
Aber Aktionäre wollen doch Geld verdienen!
Unsere Aktionäre wissen, dass unser Geschäft von langfristigen Preiszyklen mit guten und auch herausfordernden Jahren beeinflusst wird. Im klassischen Energie-geschäft sprechen wir nicht von Monaten, sondern von Jahren. «Schnell» ist in unserer Branche, wenn wir beispielsweise ein Wasserstoff-Projekt in 12 bis 18 Monaten umsetzen können. In der Regel gehen wir aber eher von 15 bis 20 Jahren aus, wenn es um Produktionsanlagen geht.
Sie erwähnten die drei Pfeiler der Nachhaltigkeit: Ökonomie, Ökologie und Soziales. Ist es möglich, alle drei gleich zu gewichten, oder bleibt immer ein Pfeiler bis zu einem gewissen Grad auf der Strecke?
Früher ordnete man oft das Soziale und die Ökologie der Ökonomie unter. Heute nehmen wir bei Grossprojekten alle beteiligten Stakeholder frühzeitig mit an Bord. So konnten wir beim Bau des 900-Megawatt-Pumpspeicherkraftwerks Nant de Drance nach mehr als zehn Jahren Zusammenarbeit eine positive Bilanz ziehen. Die 15 Umweltkompensationsmassnahmen sorgen für einen wirksamen Ausgleich der Auswirkungen des Kraftwerkbaus und dessen Anschluss ans europäische Stromnetz auf die Umwelt. Die beispielhafte Zusammenarbeit und der konstruktive Dialog unter den Beteiligten ermöglichen, dass Stromproduktion und Naturschutz im Gleichgewicht sind.
Alpiq ist ein europäisches Energieunternehmen mit Schweizer Wurzeln. Seit mehr als hundert Jahren produziert Alpiq klimafreundlichen Strom aus CO2-freier Wasserkraft und betreibt ein diversifiziertes und flexibles Kraftwerksportfolio in ganz Europa. Dank herausragender Kenntnisse im Asset-, Portfolio- und Risikomanagement ist Alpiq führend in der Vermarktung erneuerbarer Energien. Die Gruppe beschäftigt rund 1200 Mitarbeitende europaweit und hat ihren Sitz in Lausanne.
www.alpiq.com
Welchen Einfluss haben Konsumenten? Können sie ein Unternehmen zur Nachhaltigkeit drängen?
Heute viel mehr als früher, weil mehr Informationen verfügbar sind. Die sozialen Medien sind ein starker Watchdog, über den Stakeholder zunehmend auf das Verhalten von Unternehmen Einfluss nehmen können.
«Wir müssen verstehen, dass die Zukunft jetzt ist und dass wir beim Klimaschutz heute handeln müssen.»
Kann Nachhaltigkeit als Geschäftsmodell dienen?
Es gibt Beispiele wie das Schweizer Start-up, das aus Apfelschalen veganes Leder für Handyhüllen und Portemonnaies herstellt. Nachhaltigkeit ist aber weit mehr als ein Geschäftsmodell. Es ist die Haltung und Qualität dahingehend, wie man ein Geschäft betreibt. Wie führe ich die Menschen im Unternehmen? Wie nachhaltig sind die Prozesse optimiert? Mit welchen Lieferanten arbeitet man zusammen? Firmenwagen oder GA? Nachhaltigkeit hat in einem Unternehmen so viele Aspekte und wir sind bei Alpiq gerade dabei, sie alle zu analysieren. Das ist anstrengend, braucht Mut und Durchhaltewillen, weil wir alles hinterfragen – auch Dinge, die vielleicht schon lang recht zufriedenstellend funktionieren.
Was bedeutet nachhaltiges Wirtschaften für ein Unternehmen?
Wir wollen mit unserem nachhaltigen Energiegeschäft so weit wie möglich einen Beitrag zu einem besseren Klima und zu einer verbesserten Versorgungssicherheit leisten. Wir wissen aber, dass wir nicht schon morgen klimaneutral sein können. Wir wissen auch, dass wir derzeit nicht nur auf Wind und Sonne setzen können, denn die Versorgungssicherheit muss gewährleistet sein. Innerhalb dieses Rahmens können wir unseren Gestaltungsspielraum voll nutzen. So haben wir zum einen Kohlekraftwerke verkauft, obwohl sie gutes Geld einbrachten. Damit reduzierten wir unsere CO2-Emissionen um über 50 Prozent. Das macht das Klima per se nicht besser, denn jetzt betreibt sie jemand anderer. Doch für Alpiq war das ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Zum anderen investieren wir in die grüne Wasserstoffproduktion. Hier nehmen wir bewusst eine Pionierrolle ein, weil wir Treiber und nicht Getriebene sein wollen. Darüber hinaus stellen sich noch viele weitere Fragen: Welche Partner in Politik und Wirtschaft nehmen wir mit? Wie stellen wir uns bezüglich Diversität personell auf? Wie finanzieren wir Projekte, traditionell oder über Green Bonds? Welche Ziele setzen wir uns und wie messen wir sie? All diese Punkte betreffen das nachhaltige Wirtschaften.
Antje Kanngiesser, (47) wurde im deutschen Nordhessen geboren und ist ausgebildete Juristin. Ihren Doktortitel machte sie an der Universität Regensburg, Deutschland. Es folgten Weiterbildungen im Finanz- und Managementbereich. Zwischen 2001 und 2007 war Antje Kanngiesser als Rechtsanwältin in Berlin tätig. Von 2007 bis 2014 besetzte sie verschiedene Funktionen bei Energie Ouest Suisse und anschliessend bei der Alpiq Gruppe. 2014 wechselte sie zum in Bern beheimateten Energieunternehmen BKW, wo sie unter anderem Mitglied der Geschäftsleitung war. 2021 kehrte sie als CEO zurück zu Alpiq. Antje Kanngiesser lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Murten.
Sie haben die grüne Wasserstoffproduktion erwähnt, wie wichtig ist diese für Alpiq?
Wir haben das Potenzial von grünem Wasserstoff zur Erreichung der Klimaziele früh erkannt. Grüner Wasserstoff spielt eine wichtige Rolle für die Erreichung des Netto-Null-Emissionsziels – insbesondere durch den Einsatz in der emissionsfreien Mobilität. Nachdem das Joint Venture Hydrospider, an dem wir zu 45 Prozent beteiligt sind, beim Alpiq Wasserkraftwerk Gösgen die derzeit grösste Produktionsanlage (2 MW) in der Schweiz für grünen Wasserstoff in Betrieb genommen hat, planen wir gemeinsam mit zwei Partnern den Bau einer 10-MW-Elektrolyse-Anlage. Die Anlage soll ab Ende 2022 in Betrieb gehen und im Endausbau mit rund 1000 bis 1200 Tonnen grünem Wasserstoff bis zu 200 Brennstoffzellen-Elektro-Lastwagen versorgen. Damit können gegenüber dem Einsatz von Diesel-Lastwagen pro Jahr rund 14’000 Tonnen CO2 vermieden werden.
Also hat das Thema Nachhaltigkeit Alpiq in den letzten 20 Jahren verändert?
Auf jeden Fall, aber in dieser Zeit hat sich auch die gesamte Branche fünfmal um sich selbst gedreht!
Sie sprachen die verschiedenen Energieträger an. Wie sieht der Strommix bei Alpiq derzeit aus?
Betrachtet man die installierte Leistung, sind rund 60 Prozent Wasserkraft, Wind und Photovoltaik. Der Rest setzt sich aus Gaskraft und nuklearer Energie zusammen. Drei Viertel unseres Portfolios sind bereits CO2-frei.
«Wir waren nie in einer besseren Position, die Dinge zu ändern.»
Bei allen Nachhaltigkeitsüberlegungen muss die Versorgungssicherheit gewährleistet sein. Die Nationalfondsprojekte 70 und 71 zeigten aber auf, dass erneuerbare Energien diesen Anspruch ohne die Unterstützung der Kernkraft derzeit nicht erfüllen können. Werden Kernkraftwerke also noch länger am Netz sein, als uns lieb ist?
Solang sie sicher und wirtschaftlich betrieben werden können, sind sie Teil der Lösung bei der Transformation hin zur regenerativen Vollversorgung. Die Debatte über neue Kernkraftwerke, die gerade geführt wird, ist allerdings eine Scheindebatte. Denn von der Planung über die Bewilligung bis zum Bau und der Inbetriebnahme würden wohl 30 Jahre vergehen. Wir müssen uns auf den Ausbau der erneuerbaren Energien konzentrieren.
Muss man der Öffentlichkeit und den Stakeholdern vielleicht auch deutlicher klarmachen, dass man nicht auf Nachhaltigkeit pochen und gleichzeitig jedes neue Projekt blockieren kann?
Das ist das Thema «not in my backyard». Die Schweiz ist in der Fläche so klein, dass man ständig in jemandes Hinterhof steht. Wir müssen die Entscheidungsprozesse beschleunigen. Wenn man zehn Jahre über ein Projekt diskutiert, sind das zehn verlorene Jahre. Wir müssen jetzt handeln, um die Zukunft zu verbessern.
Das heisst, dass Nachhaltigkeit sich ganz von allein verbreiten wird?
Nur jene Massnahmen, die einen Sinn ergeben. Vor nicht allzu langer Zeit waren PV-Anlagen in der Strombranche kein akzeptables Mittel zur Stromerzeugung. Heute ist PV allgemein anerkannt. Es ist eine Frage der Zeit, bis sich Sinnvolles etabliert. Wie lang das dauert, hängt von uns allen ab. Denn man muss gewillt sein, Altes loszulassen – und damit tut sich der Mensch schwer.
Antje Kanngiesser – Ganz persönlich
Welches persönliche Ziel möchten Sie erreichen?
Mein Lebensziel ist es, glücklich zu sein. Und wenn ich mal unglücklich bin, arbeite ich daran, dass sich das ganz schnell wieder zum Guten ändert.
Wie nachhaltig leben Sie als Privatperson?
Zu Hause machen wir viel, sind uns aber bewusst, dass es längst nicht reicht. Wir bewegen uns meist zu Fuss, mit dem Velo oder ÖV. Nebst einem Elektroauto besitzen wir aber auch einen Camper, der mit Diesel fährt. Lebensmittel beziehen wir konsequent aus der Region und wir haben uns auferlegt, saisonal einzukaufen. Tomaten im Winter und Erdbeeren im März kommen nicht auf den Tisch. Es bleibt aber noch viel zu tun.
Was hat Sie die COVID-19-Pandemie gelehrt?
Dass ich ein extrem sozialer Mensch bin! Mir haben die Menschen gefehlt, der physische Kontakt, selbst der Handschlag. Aber ich merkte auch, wie egoistisch Menschen sein können, wenn es zum Beispiel um das Nichttragen der Maske oder das Nichtimpfen geht.
Hat sich durch die Pandemie für Sie etwas nachhaltig verändert?
Der physische Abstand, die Distanz, hat uns sicherlich nachhaltig geprägt. Ich frage mich, ob wir jemals zu einem unbefangenem Umgang miteinander zurückfinden werden, den wir früher als normal bezeichneten.
Welches ist Ihre Vision für die Welt von morgen?
Wir waren nie in einer besseren Position, die Dinge zu ändern – und wir finden leider immer wieder vermeintlich gute Gründe, weshalb das jetzt gerade trotzdem nicht geht. Wir müssen verstehen, dass die Zukunft jetzt ist und wir beim Klimaschutz heute handeln müssen.