«So viel zwischenmenschlichen Kontakt hat es noch nie gegeben»

Text: Aline Yazgi | Bilder: Marc Wetli | Magazin: Homo digitalis – Juni 2018


#MJ_wie_Montreux_Jazz_und_Mathieu_Jaton  #Musiconly  #Authentizität

Mathieu Jaton stellt fest, dass die Digitalisierung der Musik zu zahlreichen Widersprüchen geführt hat. Als Direktor des Montreux Jazz Festival verfolgt er den digitalen Wandel aufmerksam mit, denn seit den Festival-Anfängen sind Musik und technische Innovation untrennbar miteinander verbunden.

Das Montreux Jazz Festival ist auf der ganzen Welt bekannt. Doch nicht nur das. Seit seiner Gründung vor 50 Jahren hat es eine Brücke zwischen Musik und technologischer Innovation geschaffen – eine der Eigenschaften, die ihm zu seinem Weltruhm verholfen haben.

Es war eines der ersten Festivals, das hervorragende Tonaufnahmen der Künstler anfertigte. Auch Filmaufnahmen liessen nicht lange auf sich warten. Als Premiere zwischen einem Festival und einer Hochschule wurde 2007 mit der EPFL eine Vereinbarung zur Digitalisierung sämtlicher Konzerte getroffen. Diese einzigartige Kollektion, die 5’000 Stunden Live-Musik umfasst, stellt eines der grössten audiovisuellen Konzertarchive der Welt dar und ist heute Teil des Weltdokumentenerbes der Unesco. Die Claude Nobs Foundation ist verantwortlich für die Erstellung und Erhaltung dieser Sammlung. Fans können anhand von Metadaten gezielt nach bestimmten Stücken suchen, und auch Wissenschaftler nutzen diese zu Forschungszwecken, insbesondere im Bereich der Neurowissenschaften.

Festival-Direktor Mathieu Jaton befindet sich also mit seinen 360°-Videos, mit Virtual Reality, 4K-Aufzeichnungen und anderen Hologrammen mitten im Technologie-Universum. Doch sieht er Festivals, insbesondere sein eigenes, infolge der musikalischen Digitalisierung und der daraus resultierenden Schwerpunktverlagerung der Branche in Gefahr?

Im Alter von 37 Jahren übernahm Mathieu Jaton die Leitung des Festivals nach dem Tod von Festival-Gründer Claude Nobs im Januar 2013. Doch der in Vevey ge­borene Freiburger ist bereits seit nahezu 20 Jahren ein Festival-Vertrauter: Während seiner Ausbildung an der École hôtelière de Lausanne kümmerte er sich fünf Jahre lang um den Empfang von Künstlern und Sponsoren. Ab 1999 arbeitete der Musikliebhaber dann in Vollzeit als Sponsoring- und Marketing­leiter und wurde anschliessend im Alter von 25 Jahren Generalsekretär. Er arbeitete zwölf Jahre lang eng mit Claude Nobs zusammen und war insbesondere in die Organisation von Festivals im Ausland und die Eröffnung der Montreux Jazz Cafés an verschiedenen Orten der Welt involviert. Das erste Café eröffnete im Flughafen Genf.

Der Mensch ist stärker als seine Technologie

«Seit der Digitalisierung der Musik hat es noch nie so viele zwischenmenschliche Kontakte gegeben. Darin liegt einer der Widersprüche im digitalen Wandel: Je mehr die Digitalisierung voranschreitet, desto mehr kommen die Menschen zusammen. In 15 Jahren hat sich die Zahl der Festivals in der Schweiz verdreifacht und in Portugal sogar verfünffacht.»

«Übrigens ein weiterer Widerspruch: Die Wirtschaftstheorie besagt, dass die Preise bei steigender Nachfrage sinken. In unserem Bereich ist das allerdings nicht der Fall. Die Künstler verdienen ihr Geld heutzutage nicht mehr mit Musikaufnahmen und setzen daher verstärkt auf Live-Auftritte, für die sie letztlich höhere Gagen verlangen. Und um sich von anderen abzuheben, müssen sie echte Shows auf die Beine stellen, was wiederum teuer ist. Daher: Ja, es hat durchaus eine Marktglobalisierung statt­gefunden und der Markt ist heute ein völlig anderer. Ja, alle Akteure in dieser Kette müssen ihre Denkweise ändern, anders arbeiten und die Musik andersartig zu Geld machen. Ja, die, die alles so machen wollen, wie sie es immer getan haben, werden es schwer haben. Doch die Entwicklung birgt gleichzeitig auch enorme Chancen.»

«Je mehr die Digitalisierung voran­schreitet, desto mehr kommen die Menschen zusammen.»

Wenn Mathieu Jaton also bezüglich der Zukunft seines Festivals zuversichtlich ist, so liegt das – unabhängig von wirtschaftlichen Überlegungen – auch an seiner Überzeugung, dass letztlich der menschliche Faktor ausschlaggebend sein wird. «Wir Menschen haben fünf Sinne. Wir möchten zusammen sein und uns austauschen. Manchmal ist der Mensch stärker als Technologie. Menschen leben vom Erfahrungsaustausch, sie sind keine Einzelgänger.»

Neue Erfahrungen sammeln

Auch wenn die Technologie ein wesentlicher Bestandteil des Montreux Jazz Festival ist, so ist sie eher als ergänzender Faktor an­zusehen. Die virtuelle Realität anhand von 360°-Aufnahmen macht neue Erfahrungen möglich und kann Konzerte in ein neues Licht rücken, da man sich beispielsweise virtuell auf der Bühne bewegen kann. Doch Mathieu Jaton ist überzeugt, dass die gesellschaftliche Erfahrung für das Fortbestehen von Live-Darbietungen sorgen wird.

Er selbst ist der Meinung, dass man sich zuerst eine Strategie überlegen muss, bevor man sich mit der Technik befasst. «Das Problem der Digitalisierung besteht darin, dass sie jeder beherrscht. Die Frage lautet nicht, für welche Technologie man sich entscheidet, sondern welche Absicht man verfolgt. Zwar haben sich die Tools verändert, doch die Notwendigkeit einer Strategie bleibt bestehen.»

Apropos: Das Festival arbeitet aktuell an der Entwicklung von Content-Strategien, um neue Einkünfte zu generieren. Hierfür hat Mathieu Jaton bereits vorgesorgt, denn er hat vor mehr als fünf Jahren Content-Einheiten geschaffen. Anschliessend ernannte er darauf aufbauend einen Chief Digital Officer.

Das Montreux Jazz Festival wurde 1967 von René Langel, Géo Voumard und Claude Nobs ins Leben gerufen, der das Festival bis zu seinem Tod im Jahr 2013 leitete. Mit mehr als 250’000 Besuchern zählt das Festival zu den wichtigsten Veranstaltungen Europas, wenn nicht sogar der Welt. Trotzdem ist es seinem Wesen treu geblieben: Improvisation und die Nähe der Künstler zum Publikum gehören weiterhin zu seinen Markenzeichen. Das Festival beschäftigt das ganze Jahr über 30 Personen, deren Zahl während des Events auf über 2’000 steigt, und hat ein Budget in Höhe von 28 Millionen Franken.

www.montreuxjazz.com

Ein Festival – eine Strategie

Für ein zyklisches Event wie das Montreux Jazz Festival ist die Entwicklung einer Strategie, die über die Show hinausgeht und ganzjährig konsistent ist, schwierig. Die Antwort? «Wir müssen uns die Frage stellen, wie unser Produkt auf digitaler Ebene aussehen soll. Was können wir also? Erfahrungen schaffen! Wir haben das Montreux Jazz Café und das Montreux Jazz Festival Japan eingeführt, um solche intensiven Momente auch jenseits der zwei Wochen im Juli zu ermöglichen. Das eigentliche Rätsel ist noch die Frage, wie man daraus das ganze Jahr über noch besser verschiedene, erlebnisorientierte Events machen kann. Genau daran arbeiten wir heute.»

«Die Frage lautet nicht, für welche Technologie man sich entscheidet, sondern welche Absicht man verfolgt.»

Die Digitalisierung hat ausserdem zur Folge, dass wir heute alle einer wahren Informa­tionsflut ausgesetzt sind. «Dieses Überangebot ist einerseits aufregend und spannend, hat aber auch eine schwindelerregende, beunruhigende Seite», so Jaton, der sich selbst als Smartphone-süchtig beschreibt. «Diese Informationsfülle hat zur Folge, dass man sich etwas verloren fühlt, die Orien­tierung verliert und gestresst ist bei dem Gedanken daran, nicht alles erfassen zu können.» Ein weitverbreitetes Gefühl. «Als Festival-Veranstalter haben wir gemerkt, dass sich unsere Kunden und Besucher manchmal verloren fühlen. Auf ihren Wunsch hin haben wir die App «Montreux Jazz Insider» eingeführt, welche Informationen und Wissenswertes zu den Künstlern und ihrer Musik aufzeigt. Wir haben gemerkt, dass das Publikum Orientierungspunkte benötigt, und möchten ihm gegenüber auf diese Weise unsere Glaubwürdigkeit und Kompetenz unterstreichen.»

Die Glaubwürdigkeit von Montreux Jazz Festivals ging schon immer mit einer herausragenden Tonqualität einher. Denn – ein weiterer Widerspruch – die Digitalisierung zeichnet sich durch «phänomenale Fortschritte im visuellen Bereich, aber eine enorme Verschlechterung der Tonqualität» aus. Die musikalische Revolution wurde aufgrund von Formatierungen und Komprimierungen über einen Qualitätsverlust realisiert.

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© 2017 FFJM – Emilien Itim

Mathieu Jaton
Kurze Fragen – kurze Antworten

Wenn Sie sich mit 3 Hashtags beschreiben müssten, welche wären das?
#MJ wie Montreux Jazz und Mathieu Jaton, #Musiconly und #Authentizität, da ich es nicht mag, wenn Menschen sich verstellen. Ich bevorzuge authentische und einfache Beziehungen.

Welche ist ihre Lieblings-App?
Montreux Jazz Insider

Welcher Bildschirmhintergrund ist auf Ihrem Handy oder Computer zu sehen?
Meine Tochter auf meinem Telefon. Mein Computer hat keinen besonderen Hintergrund.

Von welchem Beruf haben Sie als Kind geträumt?
Ich wollte damals etwas Ähnliches wie heute machen: Ich war schon immer ein geborener Organisator: Geburtstage, Ferien, zu Hause kochen etc. Schon als Kind habe ich meiner Mutter bei den Vorbereitungen von Feiern geholfen, da ich schon immer gerne viele Leute zusammengeschart habe.

Können Sie sich an Ihr erstes Handy erinnern? Welches Modell war das?
Es war dieses grosse, eckige Nokia mit ausziehbarer Antenne.