Über die Freude des Hörens

Warum gutes Hören viele Dimensionen für das menschliche Leben hat, wie man ein Hörgerät von der Grösse eines Reiskorns entwickelt und warum sein Unternehmen die Bodenhaftung nicht verliert, erklärt Lukas Braunschweiler, CEO der Sonova Gruppe.

Text: Sandra Willmeroth | Bilder: Markus Bertschi | Magazin: Life & Science – Juli 2017

Mehr als 70 Millionen Kinder und Erwachsene weltweit sind gehörlos. Wie gross ist die Chance, dass ein gehörlos geborenes Kind je normal hören kann?

Heute kann man einem tauben Kind bereits im ersten Lebensjahr ein Ohrimplantat einsetzen und das zweite dann schon nach zwei oder drei Jahren. Diese Kinder haben später keinerlei Ein­schränkungen beim Hören und sind sozial voll integriert. Wir kennen Kinder, die haben zwei Implantate und singen in einem Chor. Vor 20 oder 30 Jahren wäre das undenkbar gewesen.

Das hängt aber vor allem vom Gesundheitssystem des Landes ab, in dem sie zur Welt kommen?

Das ist etwas, was mir grundsätzlich grosse Sorgen bereitet, diese Diskrepanz zwischen entwickelten Ländern und den Entwicklungs­ländern. Das schweizerische Gesundheitssystem beispielsweise versorgt die Bevölkerung extrem gut. Es wird aber an seine Grenzen stossen, denn jedes Jahr steigen die Gesundheitskosten über­proportional. Dem gegenüber stehen aber die Schwellenländer, in denen mit fünf bis sechs Milliarden Menschen der weitaus grössere Teil der Weltbevölkerung lebt. Hier ist die Bevölkerung chronisch unter­versorgt, nicht nur medizinisch. Dieses riesige Gefälle ist in meinen Augen sehr kritisch.

«Der Gehörsinn ist der Sinn, der am meisten Arbeitsleistung des Hirns braucht.»

Hat Sonova deshalb die «Hear the World Foundation» gegründet?

Das schwingt sicher mit. Die Stiftung hat den Zweck, Projekte in Ländern zu unterstützen, in denen es keine gute Versorgung mit medizinischen Geräten gibt oder wo sich Menschen so etwas nicht leisten können. Mit unseren über 80 Projekten seit der Gründung der Stiftung operieren wir in Ländern, in denen wir nachhaltig etwas erreichen können, zum Beispiel in der Kinderversorgung. Wenn ein hörgeschädigtes Kind wieder hören und sozial integriert am Schulleben teilhaben kann, hat es eine Chance im Leben. Denn ein funktionierendes Gehör bedeutet für die Entwicklung eines Menschen weitaus mehr als nur das reine Hören.

Wie meinen Sie das?

Schlechtes Hörvermögen verursacht angrenzende Krankheiten oder Probleme. Es gibt mindestens sieben oder acht solcher Erkrankungen, die mit Hörverlust zusammenhängen. Beispielsweise ist es mittler­weile erwiesen, dass jeder, der Tinnitus hat, auch in irgendeiner Form ein Hörproblem hat. Und wir wissen, dass etwa auch ADHS mit dem Hörvermögen zusammenhängt. Zudem gibt es Studien, die eine Korrelation zwischen Hörverlust und Demenz aufzeigen. Was nicht verwunderlich ist, denn das Gehirn verändert sich bei einem altersbedingten Hörverlust.

Der Schweizer Lukas Braunschweiler (geb. 1956) führt die Geschäfte der Sonova Gruppe seit November 2011. Zuvor war er CEO des Schweizer Technologiekonzerns Ruag. Von 2002 bis 2009 leitete er als Präsident und CEO die Dionex Corporation, davor war er in verschiedenen Positionen in der Konzernleitung von Mettler Toledo in der Schweiz und den USA tätig. Lukas Braunschweiler verfügt über einen Master of Science in analytischer Chemie sowie über einen Doktortitel in physikalischer Chemie der ETH Zürich. Er ist verheiratet und Vater zweier Söhne.

Inwiefern?

Der Hörverlust entwickelt sich schleichend. Die Betroffenen beschummeln sich oft jahrelang selbst, indem sie verdrängen oder überspielen, dass sie schlechter hören. Dadurch stellt sich das Gehirn auf das nachlassende Hörvermögen ein, wobei es wiederum an Prozesskraft verliert und träge wird. Denn das Ohr ist ein komplexes Organ und Hören ist der Sinn, der mit Abstand am meisten Arbeitsleistung des Gehirns erfordert.

Viele Betroffene scheuen davor zurück, sich ein Hörgerät zuzulegen. Wie versuchen Sie, hier tätig zu werden?

Das ist ein psychologisches Thema. Das Hörgerät ist für viele immer noch eine Prothese. In Italien oder Frankreich heisst es ja auch «Audioprothese» und das ist immer noch stigmatisierend. Wir arbeiten viel daran, dass dieses Stigma überwunden wird. Aber es erklärt, warum Menschen mit nachlassendem Hörvermögen durchschnittlich etwa sieben Jahre verstreichen lassen, bis sie einen Audiologen aufsuchen. In dieser Zeit kann die Gehörkombination schon starken Schaden nehmen.

«Wir sind überzeugt, dass Hörgeräte über kurz oder lang salonfähig werden.»

Ist es nicht eher aus ästhetischen Gründen, weshalb man lieber auf ein Hörgerät verzichtet?

Das Design spielt eine sehr grosse Rolle. Heute sind die Hörgeräte schon etwas anders als die fleischfarbigen Knochen, die man sich früher hinter das Ohr stecken musste. Wir bauen heute so kleine Geräte, dass man sie gar nicht sieht, weil sie direkt im Gehörgang platziert werden. Daher sind wir auch überzeugt, dass Hörgeräte über kurz oder lang salonfähig werden. Nicht unbedingt solche, die man Tag und Nacht tragen muss, aber sicher die kleinen und einfach zu bedienenden Geräte, die dazu dienen, ein besonderes Klangerlebnis, wie den Besuch eines Sinfoniekonzertes oder Tisch­gespräche in einer grossen Runde, zu verbessern.

Welche Innovation Ihres Unternehmens begeistert Sie am meisten?

Wir haben verschiedene Standards gesetzt. Beispielsweise das binaurale Hören, bei dem die Hörgeräte im rechten und im linken Ohr in Echtzeit miteinander kommunizieren und die Stereofähigkeit des Ohres imitieren können. Oder wir haben als erster Anbieter die «Kontaktlinse» für das Ohr auf den Markt gebracht, Lyric, ein Hörgerät so gross wie ein Reiskorn. Unsere neueste Errungenschaft ist ein aufladbares Hörgerät von Phonak mit Lithium-Ionen-Batterie und eine völlig neue Radiotechnologie.

Sonova ist der weltweit führende Anbieter innovativer Lösungen rund um das Thema Hören. Die Gruppe ist im Markt durch ihre Kernmarken Phonak, Unitron, Hansaton, Advanced Bionics und AudioNova vertreten. Sonova produziert sowohl Hörgeräte als auch Implantate und drahtlose Kommunikationslösungen. Das Unternehmen wurde 1947 in Stäfa gegründet, ist heute in über 100 Ländern vertreten und beschäftigt mehr als 14’000 Mitarbeiter. Im Geschäftsjahr 2016/2017 erzielte Sonova einen Umsatz von 2,4 Milliarden CHF und einen Reingewinn von 356 Millionen CHF. Über alle Geschäftsfelder hinweg sowie mit der Arbeit der Hear the World Foundation, verfolgt Sonova die Vision, eine Welt zu schaffen, in der jeder Mensch die Freude des Hörens und damit ein Leben ohne Einschränkungen geniessen kann.

www.sonova.com

Woher bekommen Sie die Anregung für solche Innovation?

Interessanterweise ist unsere Firma oft nicht die erste mit einer Idee – aber wir sind häufig diejenigen, die sie zu Ende denken und das entsprechende Produkt entwickeln, auf den Markt bringen und dann zum Standard machen. Aufladbare Hörgeräte gab es beispiels­weise bereits vorher. Diese waren aber technisch nicht so ausgefeilt, dass sie kommerziellen Erfolg hatten. Das haben erst wir geschafft.

Dank der sprichwörtlichen Schweizer Beharrlichkeit und Genauigkeit? Oder was ist Ihr Führungsprinzip?

Vielleicht, denn es ist kein Zufall, dass wir nicht weit weg vom Jura sind! Unser Geschäft hat viel mit der Uhrmacherei gemeinsam. Für mich sind aber nebst der Genauigkeit vor allem zwei Dinge sehr wichtig: Bescheidenheit und Entschlossenheit. Aber dies mit Hingabe und Fürsorge. Diesen Ansatz versuche ich zu leben, privat und im Unternehmen. Es ist mir wichtig, die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Das sind wir auch dem Markt schuldig, in dem wir tätig sind, denn unser Business dient letztlich den Menschen, die es
im Leben nicht so einfach haben.

Wie spiegelt sich das in der Vision von Sonova?

Wir stellen uns eine Welt vor, in der es für jeden Hörverlust eine Lösung gibt und in der alle Menschen gleichermassen die Freude des Hörens erfahren können. Denn jeder Mensch, der wieder hören kann, hat dadurch ein ganz anderes Lebensgefühl und es bieten sich ihm neue soziale Chancen. Seien es Kinder oder auch ältere Personen, die wieder voll am Leben teilnehmen können.

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