«Wähle deine Kämpfe»

Text: Redaktion ceo | Bilder: www.foto-shooting.ch | Magazin: Aus Mut gemacht – Oktober 2022

Menschenrechten zur Geltung zu verhelfen ist heute wichtiger denn je. Die Rechtsprofessorin Helen Keller hat ihre berufliche Karriere diesem Thema verschrieben – aus Überzeugung. Mit viel Mut, Augenmass und ihrer reichen Erfahrung versucht sie, die Welt ein bisschen gerechter zu machen.

1948, unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkrieges, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Heute haben fast alle Staaten internationale Menschenrechtsabkommen unterzeichnet oder Menschenrechte in ihrer Verfassung verankert. Und doch scheint es, dass die Bedrohung dieser universalen Rechte aktuell zunimmt. Umso wichtiger sind mutige Menschen, die sich für ihre Einhaltung einsetzen.

Der inneren Stimme folgen

Helen Keller hat den Fokus ihrer Karriere auf die Bereiche Völkerrecht und Menschenrechte gelegt. «Mir war sehr früh klar, dass ich mein Geld nicht mit Steueroptimierungen verdienen wollte. Für mich war die Nahtstelle zwischen nationalem und internationalem Recht total spannend. Und das ist bei den Menschenrechten am besten gegeben.» Von 2008 bis 2011 war die Juristin Mitglied des Menschenrechtsausschusses der UNO in Genf und New York, wo sie sich einen Namen als Spezialistin für Menschenrechtsfragen machte. 2011 fragte dann der Bundesrat an, ob sie Interesse hätte, den freiwerdenden Posten der Schweizer Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zu übernehmen. Es sagt viel über Helen Keller aus, dass sie ihre prominente Befürworterin erwähnt: «Das war wohl ganz wesentlich der damaligen Bundesrätin Micheline Calmy-Rey zu verdanken, die mich als Frau entscheidend gefördert hat.»

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wurde 1959 in Strassburg von den Mitgliedstaaten des Europarats errichtet, um die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention sicherzustellen. Die Schweiz ist seit ihrem Beitritt zum Europarat 1963 am EGMR vertreten.

Seit 1998 ist der EGMR ein ständig tagender Gerichtshof. Bürger:innen können sich, nachdem die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind, mit Beschwerden direkt an ihn wenden.

Ein temporärer Abschied

Helen Keller wurde gewählt und zog nach Strassburg. Ihre Familie blieb in Zürich, nicht zuletzt wegen der beiden Söhne. Das Familienleben beschränkte sich nun auf die Wochenenden. Auf die Frage, ob dieser Entscheid sie viel Überwindung gekostet hätte, antwortet Helen Keller ausweichend. «Würde man das einen Mann auch fragen?» Doch sie sagt es mit einem Lächeln. Sich selbst als wagemutig zu bezeichnen, kollidiert mit ihrer Bescheidenheit. Ehrlich bekennt sie: «Es ist viel an meinem Mann hängen geblieben, das hatten wir unterschätzt. Er hatte ja auch seine eigene Karriere. Da brauchte es dann schon die Unterstützung durch eine Tagesmutter. Ich habe versucht, unter der Woche so intensiv wie möglich zu arbeiten, um am Wochenende Zeit für die Familie zu haben.»

«Man macht sich immer unbeliebt, wenn man tradierte Rollenverständnisse hinterfragt.»

Eine kräftezehrende Aufgabe

Die Richter:innen der 47 Mitgliedstaaten am Europäischen Gerichtshof müssen bei Fällen gegen ihr eigenes Land sicherstellen, dass geltendes nationales Recht berücksichtigt und umgesetzt wird. Eine Art Qualitätskontrolle, wenn man so will. Zudem sitzen sie in Kammern, in denen die Fälle aller Staaten verhandelt werden. Diese haben vielfach eine grosse Tragweite. «Das Fällen dieser Urteile braucht viel Mut, aber auch sehr viel Kraft», sagt Helen Keller. «Ich musste lernen, meine Energie zu 95 Prozent auf den Gerichtshof zu konzentrieren, nicht zuletzt, weil man ständig in den beiden Amtssprachen Englisch und Französisch kommuniziert. Am Abend war ich dann oft ziemlich erschöpft.» Hinzu kommt der Umgang mit unterschiedlichen Mentalitäten und Kulturen. Da ist Sozialkompetenz gefragt. «Man muss auch dann professionell bleiben, wenn jemand ausflippt. ‹I respectfully disagree› ist das höchste, das man sich an Reaktion erlauben kann, damit das Gegenüber nicht sein Gesicht verliert.» Denn für viele der Richter:innen sind die Fälle, in denen gegen ihre Länder verhandelt wird, nicht einfach. «Viele betrachten die Menschenrechtssituation in ihrem Heimatland durchaus kritisch», erzählt Helen Keller. «Ich war lange in der Kammer, die die türkischen Fälle behandelte, da war das sehr deutlich zu spüren. Da war es für uns aus der Schweiz, Deutschland oder Österreich natürlich einfacher, unsere Arbeit zu machen.»

Die Universität Zürich wurde 1833 gegründet, als der Kanton Zürich seine höheren Schulen für Theologie, Jurisprudenz und Medizin in der «Universitas Turicensis» zusammenfasste und die drei Studienbereiche um eine Philosophische Fakultät ergänzte.

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich gehört heute mit 55 Professorinnen und Professoren, 40 Titularprofessorinnen und -professoren, 34 Privatdozierenden und über 230 externen Lehrangestellten sowie 327 Assistierenden zu den grössten rechtswissenschaftlichen Fakultäten Europas. Sie ist im europäischen Raum eine der führenden Forschungsinstitutionen.

www.uzh.ch

Herausfordernde Streitschlichtung

Ein Urteil ist immer eine Streitschlichtung, doch in vielen Fragen lässt sich kaum ein Konsens erzielen. Dies ist häufig der Fall bei Fragen, die moralische, ethische oder religiöse Vorstellungen berühren.

«Es ist viel an meinem Mann hängen geblieben, das hatten wir unterschätzt. Er hatte ja auch seine eigene Karriere.»

Helen Keller erinnert sich an einen besonderen Fall aus Rumänien. «Es ging um einen jungen Mann, einen Roma, der geistig beeinträchtigt und HIV-positiv war. Er lebte in einem Waisenhaus. Als die Schwestern des Waisenhauses erfuhren, dass er HIV-positiv war, wollten sie ihn verhungern lassen, aus Angst vor einer Ansteckung. Wenn sich nicht eine NGO für ihn eingesetzt hätte, wäre er chancenlos gewesen. Denn er hatte keine Familie, niemanden, der zu ihm stand.» Ihre Schilderung zeigt: Das schreckliche Ausmass der Fälle, die in Strassburg landen, lässt sich nur erahnen. Eine Tatsache, der sich Helen Keller täglich stellen musste.

Prof. Dr. iur. Helen Keller (58) ist Professorin für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Zürich.

Sie war von 2002 bis 2004 ordentliche Professorin für öffentliches Recht an der Universität Luzern. Danach lehrte sie an der Universität Zürich bis 2011 öffentliches Recht sowie Europa- und Völkerrecht. Von 2008 bis 2011 war sie Mitglied des Menschenrechtsausschusses der UNO. Ab 2011 war sie Schweizer Richterin am europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Als ihre Amtszeit 2020 endete, kehrte sie an die Universität Zürich zurück, wo sie einen Lehrstuhl am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht innehat. Seit Dezember 2020 amtet sie zudem als Richterin am Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina.

Helen Keller ist verheiratet und Mutter von zwei Söhnen, sie lebt in Zürich.

Rückkehr zu den Wurzeln

Nach dem Ende ihrer Amtszeit kehrte Keller an die Universität Zürich zurück. Dafür ist sie sehr dankbar: «Ich war in einer absolut privilegierten Situation, weil die Uni mir diese Stelle neun Jahre lang freigehalten hat. Anders als viele meiner Kolleginnen und Kollegen in Strassburg hatte ich keine Zukunftssorgen.» Doch die Rückkehr verlief nicht ganz ohne Reibungen. «Am Anfang waren einige ein bisschen eingeschüchtert. Sie dachten wohl, ich hätte jetzt Starallüren, und wollten ihr Gärtchen schützen. Das hat sich dann aber schnell eingespielt.» Schon während ihrer Zeit in Strassburg hielt sie pro Semester ein Menschenrechtsseminar an der Uni Zürich. «In den Gerichtsferien war ich zwei Tage an der Uni und danach habe ich die Studierenden zu einem interessanten Fall in die grosse Kammer nach Strassburg geholt. Das war wohl für alle spannend.» Junge, interessierte Student:innen zu fördern, macht ihr Spass und auf deren Erfolge ist sie stolz – zu Recht. «Ich unterstütze ihre Anträge auf Semesterpreise für gute Arbeiten, damit sie in ihrem CV etwas vorweisen können. In den vielleicht 30 Seminaren, die ich bisher gegeben habe, gab es viele Arbeiten, die ausgezeichnet wurden.»

Wer kämpft, verliert auch mal

Mehr als die Hälfte der Jusstudierenden an der Uni Zürich sind Frauen. Dennoch haben die Studentinnen auch heute noch mit Vorurteilen zu kämpfen. Das weiss Helen Keller sehr gut – und hat dazu ihre eigene Strategie entwickelt: «Man macht sich immer unbeliebt, wenn man tradierte Rollenverständnisse hinterfragt, das mögen die Kollegen nicht so gern. Da muss man abwägen, wo es sich lohnt oder wo man auch mal ein Auge zudrücken kann.» Aber das sei es allemal wert, sagt sie. Man müsse nur wissen, wofür es sich zu kämpfen lohnt. «‹Choose your battles›, lautet mein Motto. Und man muss auch mal verlieren können.» Und dann hat sie noch einen Rat: «Ich sage den Studentinnen, sie sollen sich auf Steuerrecht spezialisieren. Es gibt viel zu wenig junge Frauen, die sich für die gesellschaftlichen Aspekte des Steuerrechts einsetzen.» Das überrascht aus dem Munde einer Frau, die «nie ihr Geld mit Steueroptimierungen verdienen» wollte. Doch Helen Keller ist immer ihrer Berufung gefolgt. Damit ist sie Vorbild für viele junge Menschen – nicht nur für die, die in ihren Vorlesungen sitzen.

Helen Keller – Ganz persönlich

Beim Begriff «Mut» denke ich als Erstes an …
Ruth Bader Ginsburg und Greta Thunberg.

Mut hat für mich die Farbe …
Weiss.

Mein Mut-Vorbild ist …
siehe erste Frage!

Dieses Tier verkörpert meinen persönlichen Mut am besten …
der Delfin.

Wer mutig entscheiden will, muss …
Niederlagen einstecken können.